Ich wage mich nach einer längeren Wochenschauer-Pause an ein heikles Thema: Wenn ich wählen gehe im September, wem traue ich am ehesten einen spürbaren Beitrag zu den immer drängenderen Veränderungen zu, die wir und die Erde, auf der wir leben, brauchen? Und wem traue ich eine Rückverstaatlichung der weitgehend privatisierten Infrastruktur zu – für Gesundheit, Transport und Verkehr, Telefon, Internet, Post etc.? Und noch heikler: Zum zweiten Mal in meinem Leben denke ich darüber nach, ob ich überhaupt wählen gehen soll. Denn Wahlen sind nicht demokratisch.

Das Wahlrecht gilt in der westlichen Welt und darüber hinaus als fast so wichtig wie das Recht auf Leben, menschliche Würde und Unversehrtheit. Es sei der Garant einer demokratischen Ordnung und sorge dafür, dass in regelmäßigen Abständen die Regierung neu zusammengesetzt und niemand zum Selbstherrscher wird. Letzteres zumindest stimmt. Niemand kann – wenn er nicht wie Donald Trump einfach Recht und Gesetz missachtet und sich mit bewaffneten Horden darüber hinwegsetzt – verhindern, dass er von einer Mehrheit abgegebener Stimmen ganz legal aus dem Amt befördert wird. Bei Trump kann man allerdings sogar damit rechnen, dass er das Ergebnis mit Gewalt auch nachträglich noch umkehrt.

Das Problem mit dem Wählen ist, dass über Parteien und Personen abgestimmt wird, aber nicht über die Politik. Das tun dann vielmehr die, die als Repräsentanten der Wähler gelten. Nach der Abgabe der Stimme bei der Wahl hat der Wähler selbst keine Stimme mehr. Es sei denn, er ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und wird zweimal pro Woche zu einer Fernsehshow eingeladen. Normale Menschen, sagen wir mal frech: 99% der Wähler, haben auf die Politik, die nach der Wahl gemacht wird, keinerlei Einfluss. Das ist ein bisschen Schwarz-Weiß gemalt, denn es gibt Volksabstimmungen, es gibt gewisse Möglichkeiten der Einflussnahme über Bürgerinitiativen und lokale Gremien. Und natürlich Lobbys aller Art. Aber im Großen ist unsere Art von Demokratie: Wir haben das Recht zu wählen, aber über die Politik bestimmen die Politiker.

Dagegen wird eingewandt, dass man ja schließlich von den Parteien vorher ein Programm zu sehen bekommt. Oder zumindest ein paar großspurige Parolen daraus auf den Plakaten. Also könne man ja über die künftige Politik durch die Wahl derjenigen Partei mit entscheiden, deren Programm den eigenen Vorstellungen am nächsten kommt. Das ist Augenwischerei. Die Programme werden in der Regel kurz vor den Wahlen zu keinem anderen Zweck als dem gezimmert, den Wähler interessierende Themen möglichst stimmbringend zu adressieren. Nach der Wahl haben sie praktisch keine Bedeutung. Beschlossen wird vielmehr ein Koalitionsvertrag, und der Zwang zum Kompromiss zwischen den Koalitionären ist die Begründung, dass leider das eigene Programm mit diesen nicht umzusetzen sei.

Aber ist das nicht richtig so? Sollten nicht die über Politik und die nötigen Kompromisse entscheiden, die etwas davon verstehen, die das gelernt haben? Die Politiker der westlichen Demokratien haben in der Regel von der Schule an gelernt, sich wählen zu lassen. Vom Klassen- und Schulsprecher über ein Pöstchen in der Jugendorganisation einer politischen Partei geht es schnurstracks in den Kampf um die Listenplätze und am Ende Abgeordnetensitze, Ämter und Ministersessel. Fachlich sind viele Politiker als Juristen ausgebildet. Da können sie beim Ausscheiden aus dem Amt der großen Wirtschaft gut beim Tricksen und Umgehen von staatlichen Einschränkungen helfen. Die meisten haben aber eher Politik oder Soziologie studiert und fast nie einen richtigen Beruf ausgeübt. Sie haben nichts gelernt, sind keine Ingenieure oder Handwerker, Bäcker oder Krankenschwestern. Sie wissen nichts vom Leben der normalen Leute, weil sie es nie geführt haben. Sie sind nicht kompetent in irgendwelchen Sachentscheidungen, weil sie in keinem Fach wirkliche Kompetenz haben.

Die Besten im Stimmenfang

Parteipolitiker lernen über Dinge zu entscheiden, wenn sie durch eine Entscheidung der Partei oder des Parlaments für ein bestimmtes Gebiet zu Verantwortlichen erklärt werden. Jeder von uns allen könnte das genauso gut. Aber jeder von uns könnte zumindest seine Erfahrung aus dem normalen Leben einbringen. Und viel Fachkompetenz, denn wir sind ja täglich in allen erdenklichen Fachgebieten unterwegs. Trotzdem wird uns weniger Entscheidungsfähigkeit zugetraut als den Parteipolitikern. Weil sie ja dann überflüssig wären.

Es ist ein großer Trugschluss, dass diese Art von Staatsordnung irgendetwas mit Demokratie, also Volksherrschaft, zu tun hat. Die alten Griechen, die als Erste diesen unglaublich mutigen Schritt zu einem Staat ohne Diktator, König, Kaiser oder Herrscherfamilien, ja sogar ganz ohne übergeordnete Behörde über der Stadt gemacht haben, sie haben Jahrhunderte darum gekämpft, das Wahlrecht loszuwerden.

Der Philosoph Aristoteles hat gesagt, Wahlen seien das Mittel der Aristokratie, und nur das Losverfahren sei demokratisch. Denn jeder freie Bürger sei in der Lage, sich für eine gewisse Zeit gegen angemessene Entschädigung für seinen Ertragsausfall gut um die Dinge zu kümmern, die alle betreffen. Damals waren das die Dinge, die die Stadt betreffen. Ta Politika, der Ursprung unseres Wortes Politik, bedeutet: Das, was die ganze Stadt betrifft. Polis ist das griechische Wort für Stadt.

Wahlen, so die Erfahrung der Demokratie-Vorkämpfer in Attika, führen dazu, dass man Wähler und zu Wählende mit Geschenken und Versprechen zu bestimmtem Verhalten bringen kann. Heute nennt man das entweder Lobbyismus oder Korruption. Das Wort Korruption war, soweit mir bekannt, damals noch nicht so in Mode. Es kommt auch aus dem Lateinischen und stammt aus der Zeit der römischen Republik, die mit dem griechischen Versuch der Demokratie genauso aufgeräumt hatte wie mit der Unabhängigkeit der Städte und der in ihnen lebenden Menschen.

Dass wir heute das Wahlrecht für eine Errungenschaft der Demokratie halten, liegt nur an der Macht der Gewohnheit. Vor 250 Jahren waren es die reichen US-Amerikaner der Industrie und beginnenden industriellen Landwirtschaft, die Land- und Fabrikbesitzer, die sich für die Besten ihres Landes hielten. Sie hatten die höhere Bildung an den richtigen Universitäten, die ja nur sie sich leisten konnten. Sie wussten, wie man sich aushalten lässt und seine Sklaven und Bediensteten die Arbeit erledigen lässt, während sie selbst in den Town-Halls über die beste Verfassung grübelten.

Das waren die Väter der amerikanischen Verfassung, die 1787 verabschiedet wurde. Sie sollte den Besten (griechisch Aristoi) die Macht sichern, den Aristokraten der neuen Industriewelt. Das Wort Demokratie spielte in dieser Debatte und Verfassung keine Rolle. Wann genau die Wahl in der westlichen Welt zur Grundlage moderner Demokratie erklärt wurde, muss ich noch herausfinden. Viele Jahrzehnte sicherten sich die Reichen durch ein Zensuswahlrecht sogar die alleinige Wählbarkeit, denn wer nicht genug verdiente und entsprechend viel Steuern zahlen konnte, hatte gar kein Wahlrecht.

Auf dem europäischen Kontinent sorgte übrigens einer der Gründerväter, Thomas Jefferson, zwei Jahre später in der französischen Revolution 1789 dafür, dass sich dieselben Gedanken der Großartigkeit des Wahlrechts auch hier festsetzten. Jefferson war zu dieser Zeit Botschafter in Paris.

In diesen 250 Jahren hat sich viel verändert. Heute gilt ein allgemeines Wahlrecht, und Frauen wurden in den Siebzigerjahren zuletzt auch in der Schweiz zu den Wahlen zugelassen. Es gibt ein formell von der Regierung unabhängiges Rechtssystem, das allerdings derzeit in einem europäischen Land nach dem anderen wieder eingeschränkt oder ganz abgeschafft wird. Bei uns noch nicht. Aber niemand macht ein Geheimnis daraus, dass es einen Unterschied vor Gericht macht, ob man als Obdachloser davor steht oder als Martin Winterkorn. Ganz abgesehen von den Juristen, die sich der eine leisten kann, die meisten aber eben nicht.

In diesen 250 Jahren hat sich die Zahl der Erdbewohner von ein paar Hundert Millionen auf über 7,5 Milliarden erhöht, die effektiver ernährt werden als die noch kleine Menschheit damals. (Über das Wie des Ernährens ist ein eigener Artikel fällig.) Die Industrie hat alle Ecken der Erde durchdrungen und bestimmt, wie wir leben, wie viel CO2 in der Luft ist, wie schnell sich die Erde erwärmt und das Leben mehr und mehr gefährdet. Das Wirtschaften ist sehr viel komplexer geworden. Reich kann man heute auch werden, wenn man eine kluge Idee hat, eine Lücke in den Gesetzen findet und die Idee ohne Rücksicht auf die Menschheit zu Geld macht. Dann kann man zum Multimilliardär werden wie Bill Gates oder Jeff Bezos. Und die Masse der Menschen in den hoch entwickelten Industrieländern kann sich so viele Steaks auf dem tollsten Grill leisten, dass sie schon das Gefühl hat, selbst zu den Reichen und Schönen zu gehören.

Es hat sich viel geändert, aber eins ist gleich geblieben: Die Wahldemokratie sorgt dafür, dass die wirklich Reichen und Mächtigen repräsentiert werden, nicht der Demos, das Volk. Sie sorgt dafür, dass Ahrweiler in reißenden Fluten untergeht, weil der Staat es auch 80 Jahre nach der Erfindung des Computers nicht schafft, die Einwohner vor der eineinhalb Stunden zuvor gemeldeten Flutwelle zu warnen und zu evakuieren.

Gegen Wahlen

Es gibt also eine Menge Gründe, gegen Wahlen zu sein und gegen das Wählen. David von Reybrouck hat 2013 dazu ein sehr lesenswertes Buch herausgegeben: „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“.

Lesenswert ist es, weil es eine ganze Reihe von hervorragenden Beispielen dafür enthält, dass per Losverfahren zusammengewürfelte Gremien zu wesentlich sinnvolleren und besseren Entscheidungen in der Politik kommen als gewählte Abgeordnete mitsamt ihren Lobby-Zuflüsterern und sogenannten Beratern. Und sehr viel schneller obendrein.

Im angeblich stockkatholischen und rückwärtsgewandten Irland gibt es seit 2015 die vermutlich modernste und liberalste Verfassung Europas bezüglich der Gleichbehandlung von Schwulen und Lesben. Ein Gremium von schwulen Friseuren, heterosexuellen Briefträgern und anderen Normalbürgern hatte in wenigen Monaten die Vorlage dazu verfasst. In einer Volksabstimmung gab es dafür 62% der abgegebenen Stimmen. Und die konservative Regierung, die sich aus Angst um Wählerstimmen nicht getraut hatte, selbst etwas zum Thema zu entwerfen, hat den Paragrafen tatsächlich in Kraft gesetzt.
Es geht also auch anders. Aber man muss es wollen. Und irgendwo anfangen. Sicher nicht mit der Wahl von irgendeinem der Leute, die nichts gelernt haben als das Stimmenfangen und Posten ergattern. Vielleicht sollte man für den Anfang eine Partei gründen mit dem Namen „Parteilos“?

Reybrouck setzt an den Anfang seines Buchs ein Zitat von Jean-Jacques Rousseau aus seinem Buch „Vom Gesellschaftsvertrag“ von 1762: „Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr: nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“