Vier Stunden saß ich am 6. Januar vor dem Bildschirm und habe hauptsächlich auf CNN live und immer wieder ungläubig verfolgt, wie sich das Ende der parlamentarischen Demokratie anbahnt. Und doch ließen diese ersten Bilder nicht wirklich zu, die Ereignisse im Capitol wirklich zu verstehen. In meinem ersten Wochenschauer am 1. September hatte ich einen Albtraum formuliert, der nach dem erfolgreichen Sturm auf das Capitol am 6. Januar einer Korrektur bedarf. Ich schrieb mit düsterer Vorahnung, dass ich träumte:
„Die Wahl geht wie 2016 eher knapp aus, aber nach den offiziellen Zahlen wären die Demokraten diesmal auch nach der Anzahl der Wahlmänner die Sieger. Donald Trump erklärt das zur Fake News, die Wahl für gefälscht, verschanzt sich im Weißen Haus und wird von Nationalgardisten und einer örtlichen Bürgerwehr mit Waffengewalt vor dem Zugriff von Polizei und Armee geschützt, die ihn rausschmeißen sollen. Zigtausende vor dem Weißen Haus fordern sein Verschwinden, es kommt zu Gewalt mit vielen Toten, ein regelrechter Bürgerkrieg bricht aus und erfasst innerhalb weniger Tage alle Bundesstaaten.
Das Land, in dem uns die moderne Demokratie gegen Ende des 18. Jahrhunderts definiert wurde, rutscht mehr und mehr in den Sumpf der Autokratien und Diktaturen ab.“
Nun ist Biden tatsächlich gewählt worden, mit viel mehr Stimmen, als von den meisten gedacht. Keine knappe Wahl, sondern ein Vorsprung der Demokraten vor den Republikanern von 74 Wahlmännern. 36 weniger hätten gereicht. Aber Trump hat gleichzeitig 11 Millionen zusätzliche Wähler gewonnen und mit 70 Millionen fast die Hälfte der Wahlberechtigten auf seiner Seite.
Donald Trump erklärte das Wahlergebnis tatsächlich zu Fake News, behauptete Wahlbetrug und eine „geraubte Wahl“ und verweigerte die Anerkennung Bidens. Aber nicht die darüber erbosten Bürger gingen, wie von mir albgeträumt, zu Zigtausenden auf die Straße, sondern die Trump-Anhänger. Völlig ungehindert. Keine Gegendemonstranten, keine Polizei, keine Nationalgarde, keine Armee. Alle 50 Meter ein Polizist. Statt der verfügbaren rund 2.000 Capitol-Polizisten nur einige Dutzend im Einsatz. Gottseidank noch kein Bürgerkrieg, sondern „nur“ ein bewaffneter Aufruhr.
Trumps Aufruf zum Sturm des Parlaments

Trump (ZEIT online, 7.1.) stand da wie ein Volksheld und forderte die über Twitter mobilisierten Fans – „Kommt her, das wird wild!“ – auf, „mit ihm“ zum Capitol zu ziehen und die Bestätigung von Bidens Wahl zu verhindern. Immer noch keine Polizei, kein Einschreiten der Staatsgewalt in Washington. Die Capitol-Polizisten schauten, von einem Häuflein abgesehen, das sich zu Beginn etwas wehrte, überwiegend friedlich zu, wie Tausende das Parlamentsgebäude im Handstreich nahmen. Die wenigen Schüsse, die fielen, die fünf Toten, die am Tag darauf genannt wurden, 14 verletzte Polizisten, davon zwei schwer, einer später gestorben – es war das unvermeidliche Abfallprodukt eines bewaffneten Aufstands. Zum Stürmen des Capitols wurden die mitgebrachten Waffen jedenfalls mangels Widerstands der Staatsgewalt gar nicht gebraucht, die bei beiden Parteizentralen im Haus abgelegten Rohrbomben nicht gezündet.
(Auf dem CNN-Bild die Aufrührer an einer Seite des Capitols. Links auf dem zweiten Stock ein Trupp Polizisten, die die ganze Zeit untätig zuschauten.)
Vier Stunden lang konnten diese hasserfüllten Menschen im Parlament mehr oder weniger schalten und walten, wie sie wollten. Wie die Polizei setzten auch sie „chemische Stoffe“ wie Tränengas ein, und die Parlamentarier beider Parteien mussten mit Gasmasken durch Tunnel in Sicherheit gebracht werden.
Wie ein Happening sah er aus, der bewaffnete Aufruhr. Wie ein Familientreffen mit Musik und Tanz auf Regierungsfahrzeugen. Vier Stunden lang. Trump setzte Tweets ab, in denen er die Aufrührer seiner Liebe versicherte, die Berechtigung ihres Aufstands betonte, und irgendwann nach dreieinhalb Stunden sagte er, diese bewaffneten Horden sollten „friedlich bleiben“ und wieder nach Hause gehen.

Sie verließen kurz darauf das Capitol, fast noch gemütlicher und ruhiger als beim Sturm sah es aus. Die Polizisten geleiteten sie regelrecht die Stufen hinunter. Keine einzige Festnahme (von den am nächsten Tag gemeldeten 52) war zu sehen, kein rüder Ton eines Beamten zu hören. Vielmehr zitierte CNN einige Aufständische, die gut gelaunt den Polizisten beim Hinausgehen sagten: „Nicht Ihr habt uns hier hinausgetrieben. Wir gehen jetzt, weil wir das wollen. Aber wir kommen wieder.“

Die demokratische Bürgermeisterin von Washington DC erließ erst Stunden nach dem Sturm des Capitols eine Ausgangssperre für 18 Uhr Ortszeit. Um 14 Uhr hatte der Sturm begonnen. Und diese Ausgangssperre wurde nicht einmal versuchsweise umgesetzt. Um 18:30 Uhr spazierten weiterhin Aufständische mit Südstaatenflaggen und Make America Great Again Bannern zwischen den Polizeiketten herum, als wären die ihre Freunde und Helfer, nicht ihre Gegner, die etwas zu verteidigen hatten.
Erst einen Tag später wurde allmählich bekannt, was sich innerhalb des Caitols abgespielt hatte. Ohne FBI-Offiziere und Nationalgardisten wären die Abgeordneten weder sicher aus dem Haus noch wieder in den Saal gekommen. Einer der Politzisten ist seinen Verletzungen erlegen, die ihm die Aufrührer zugefügt hatten. In der FAZ hat der Washingtoner Korrespndent Majid Sattar, der als einziger deutscher Journalist bei den Abgeordneten war, eine gruselige und dennoch erhellende Chronik der Ereignisse vom 6. Januar verfasst (F+, 7. Januar).
Das Totalversagen des Staates
Das war mein erster Schreck: Die Staatsgewalt war nicht mehr auf der Seite des Staates, in dem durch Wahlen die Regierung bestimmt wird. Sie half bewaffneten Aufständischen die Treppe rauf und runter. Der abgewählte Präsident sagte in aller Öffentlichkeit, dass er das Wahlergebnis „never“ akzeptieren werde und forderte seine Anhänger unverblümt zum Aufstand auf. Und es war keine Staatsgewalt da, die ihn festnahm, des Aufruhrs und Umsturzaufrufs bezichtigte und die Massen zerstreute. Der Staat als Totalversagen. Neben der Polizei wären im Falle eines islamistischen Anschlags, eines Großaufmarschs der Bewegung Black Lives Matter oder eines Amoklaufs natürlich auch Nationalgardisten zum Einsatz gekommen. Hier wurde nur davon geredet, sie seien angefordert oder zugesichert, aber sie kamen erst in der Nacht zum Einsatzort, als nichts mehr los war. Das kann nur bedeuten, dass auch die militärische Führung auf der Seite der Antidemokraten und Trumps ist.
Mein zweiter Schreck war die lächerliche, hilflose Reaktion auf diesen Aufstand. Die Untätigkeit der Staatsmacht und der ungehinderte Durchmarsch des Aufruhrs wurde hingenommen wie ein Unwetter, das vorüberzieht. Die Gegner Trumps benahmen sich – gemeinsam mit seinen Republikanern –, als könnte jetzt alles weitergehen wie vorher. Als wäre klar, dass Biden nach der Bestätigung des Wahlergebnisses durch beide Häuser noch in der Nacht des 6. Januar in zwei Wochen ins Amt eingeführt wird und die Präsidentschaft antreten kann. Biden selbst sagte während des schlimmsten Aufstandes in den USA seit 120 Jahren: „Die Szenen von Chaos auf dem Capitol repräsentieren nicht das wahre Amerika, repräsentieren nicht, wer wir sind. Was wir sehen, ist eine kleine Zahl von Extremisten, die sich der Gesetzlosigkeit verschrieben haben.“ (eigene Übersetzung nach Guardian vom 7.1.2021)

Doch, diese Bilder repräsentieren das wahre Amerika. Dass es nur ein paar Extremisten seien, ist genauso wenig wahr, wie wenn bei uns behauptet wird, die sich selbst unverschämterweise als „Querdenker“ bezeichnenden Menschen seien eine verschwindend kleine Minderheit. Eine Minderheit sind sie. Aber es ist eine verflucht große Menge von Bürgern, die sich in den Maßnahmen der Regierung zur Pandemie genauso wenig umsorgt fühlen wie mit anderen Maßnahmen oder Ansagen des Staates.
Im letzten Wochenschauer (KW 53) habe ich die Ursachenbeschreibung von Michael Sandel in seinem neuen Buch dazu wiedergegeben. Er sah schon in der Wahl Trumps und der Zustimmung zum Brexit den Aufstand der Massen, die sich von der Elite betrogen fühlen. Denn sie wissen, dass sie keine Chance haben, sich für die Zukunft eine gute Position zu sichern. Aber genau das wird ihnen seit Jahrzehnten eingeredet: Jeder sei selbst seines Glückes – oder eben seines Unglückes – Schmied. Jetzt beginnen die, denen man über Jahrzehnte abgewöhnt hat, sich um die Politik zu kümmern, sich einzumischen und auf ihre Weise zu rächen. Und es ist gefährlich, ihnen zu unterstellen, dass sie dumm und unfähig sind. Sie haben nur eine ungeheure, ohnmächtige Wut, die sich jetzt entlädt. Dafür war der Sturm auf das Capitol gestern ein erster Vorgeschmack. Es wird bei uns in Europa und Deutschland nicht Jahrzehnte dauern, bis es ähnlich läuft.
Gefährliches Wunschdenken
Die Kommentare ringsum in der westlichen Welt, die einstmals von der ersten industriellen Demokratie der Neuzeit, den USA, angeführt wurde, gleichen sich und klingen wie das Mantra von Biden. Eigentlich sind die Vertreter der Parteien und der Wahldemokratie darin Trump gar nicht so unähnlich, nur entgegengesetzt unterwegs. Sie wiederholen ununterbrochen ihr Wunschdenken, dass alles nicht so schlimm wird, während er sich genau das Schlimme wünscht und zielsicher und erfolgreich darauf hinarbeitet. Sie wiederholen die angebliche Stärke der repräsentativen Demokratie, während er diese genauso unablässig mit Dreck bewirft und ihre Unfähigkeit unter Beweis stellt.
Gestern hat Trump bewiesen, wie leicht er scheinbar aus dem Nichts Zigtausende ins Zentrum der parlamentarischen Macht marschieren lassen kann und zugleich dafür sorgen, dass sie dabei nicht aufgehalten und behindert werden. Dass er sie sogar – wenn er will, und gestern wollte er noch mal – auch wieder abmarschieren lassen kann. Die Aufrührer haben für ihn gesprochen, als sie den Polizisten ihre Wiederkehr ankündigten.
Wer glaubt, dass Trump nur wegen seiner heutigen verbalen Ankündigung tatsächlich einfach so die Macht an Biden übergibt, ist ein Träumer. Alles ist jetzt möglich. Gestern hat er bewiesen, wie leicht und gefahrlos der Staat außer Gefecht gesetzt werden kann. Erst nach seinem Abpfiff des Aufruhrs konnten die Parlamentarier sich wieder sammeln und weiterdebattieren. Er hätte es auch verhindern können. Und das Ganze ist kein Militärputsch, keine Machtergreifung eines Diktators. Nicht einmal eine Partei steht dahinter, denn die Republikaner sind genauso gespalten wie das ganze Land.
Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass er das Parlament abschafft. Wenn es dagegen Widerstand gibt, dann gibt es vielleicht wirklich einen Bürgerkrieg. Dieses Szenario ist düster, aber seit gestern wissen wir, dass es vollkommen im Bereich der Möglichkeiten liegt.
Und wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die AFD bei uns, Marine Le Pen in Frankreich, und all die anderen Populisten in den anderen Ländern Ähnliches versuchen.
Das Jahr fängt nicht gut an. Und dabei haben wir noch nicht einmal über Corona geredet.
Ich wünsche uns eine Reihe von Persönlichkeiten, die den Verstand, die Macht und die Möglichkeiten haben, den Bürgern bei der Wiedereinschaltung ins politische Geschehen zu helfen, ihnen Räume für die öffentliche, politische Debatte zu verschaffen, in der das Parlament und die Wahlparteien als eine Variante, nicht als die heilige Kuh der Demokratie betrachtet werden. Wo Alternativen diskutiert und erst einmal im Kleinen ausprobiert werden.
Das ist mein Wunsch für 2021. Eigentlich ist es eher einer für die nächsten zehn Jahre. Aber ich fürchte, so viel Zeit haben wir dafür nicht.