Deutschland und die Ukraine – eine ganz besondere Beziehung

Warum habe ich nichts vom Asowschen Meer und der Hafenstadt Mariupol gewusst? Warum habe ich das nicht längst einmal zu einem Urlaubsziel gemacht? Warum hat mich die Ukraine gar nicht interessiert? Warum wissen wir in Deutschland überhaupt so verdammt wenig über dieses Land, das nun für lange Zeit an so vielen Orten nicht mehr zu erkennen sein wird, weil Putin Groß- und Kleinstädte genauso wie Aleppo und Grosny in Schutt und Asche bombt?

(Fotos Sendler)

Klar, man kann nicht über jedes europäische Land alles wissen. Aber die Ukraine ist ein Land, zu dem Deutschland ein ganz besonderes Verhältnis hat. Und das sollte man eigentlich schon in der Schule lernen. Es hätte keines Krieges bedürfen müssen, um dieses Wissen hierzulande zu verbreiten.

In der ZEIT Nr. 14 vom 31. März fand ich im Feuilleton den wunderbar geschriebenen Artikel „Mein Mariupol“ von Natascha Wodin. Ihre Großtante hatte in der Stadt, aus der ihre Mutter stammte, vor der Oktoberrevolution 1917 ein Gymnasium für Mädchen aus armen Familien gegründet und kostenlos dort unterrichtet. Im Bürgerkrieg nach der Revolution hatte das Gebäude gebrannt, war aber danach wieder instandgesetzt worden. Natascha Wodin schreibt, und ich gebe eine ganze Passage aus ihrem Artikel wieder:

„Als die deutsche Wehrmacht Mariupol besetzte, wurde die Schule geschlossen. Ukrainer brauchten keine Bildung, sie sollten, nachdem man sie so weit wie möglich dezimiert hatte, der arischen Herrenrasse als Domestiken dienen. In die Räume des zentral gelegenen Gebäudes zog das deutsche Arbeitsamt ein, die Mariupoler Deportationszentrale, die die Aufgabe hatte, so viele Menschen wie möglich als Arbeitssklaven nach Deutschland zu bringen. Ich gehe davon aus, dass die einstigen Lehrer des Gymnasiums als Personal übernommen wurden, unter ihnen auch meine Mutter. Man hatte sie zu einem Rädchen in der deutschen Deportationsmaschine gemacht und schließlich das Rädchen selbst deportiert.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Mariupol 240.000 Einwohner gehabt, zwei Jahre später waren es nur noch 85.000. Fast zwei Drittel der Menschen evakuiert, verschleppt, getötet. Die Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt, auf ihrem Abzug sprengten die deutschen Soldaten wahllos Gebäude, die die Bomben nicht getroffen hatten, sie zielten mit Flammenwerfern auf Türen und Fenster, um so viel verbrannte Erde wie möglich zu hinterlassen. Unter anderem zündeten sie auch die einstige Schule meiner Großtante an, um die Spuren ihrer Deportationsmaschine zu vernichten.

Als das Gebäude nach Kriegsende ein zweites Mal wieder aufgebaut wurde, brachte man eine Gedenktafel an: ‚Während der Okkupation von 1941 bis 1943 befand sich an dieser Stelle das deutsche Arbeitsamt. Von hier aus wurden mehr als sechzigtausend Mariupoler in die Sklaverei nach Deutschland verschleppt. Jeder zehnte von ihnen ist in der Unfreiheit umgekommen‘.“

Vor dem russischen Angriff im Februar 2022 hatte Mariupol 450.000 Einwohner. Natascha Wodin schließt ihren Artikel so: „Im Spiegel vom 23. März lese ich: ‚100.000 Menschen sollen sich noch im belagerten Mariupol aufhalten. Die Stadtverwaltung wirft Russland vor, Bürger als Zwangsarbeiter zu deportieren. Eine Bestätigung gibt es nicht.‘ Die Stadt Mariupol kennt jetzt die ganze Welt.“

Ich habe mir sofort ihre letzten beiden Bücher gekauft. Sie schreibt so schön über eine so schreckliche Geschichte Europas, deren Ergebnis sie war. Von einem Ehepaar von ukrainischen Zwangsarbeitern in Deutschland zur Welt gebracht, wo ihre Mutter sich in einem Fluss ertränkte, als die Autorin zehn Jahre alt war. Mit ihren Worten macht sie ihre Eltern wieder lebendig und die Ukraine und ihre Geschichte für uns greifbar. („Sie kam aus Mariupol“, 2017, ISBN 978-3-499-29065-7; „Nastjas Tränen“, Roman 2021, ISBN 978-3-498-00260-2)

Da sitze ich und schreibe, und plötzlich die abartigen Bilder und Videos aus Butscha, einer 27.000-Einwohnerstadt nahe Kiew, wo die Russen vor ihrem Rückzug wahllos Männer, Frauen und Kinder mitten auf der Straße abgeschlachtet und so liegen gelassen haben, um größtmöglichen Schrecken, größtmögliche Angst vor dem Ungeheuer Putin und der ihm in weiten Teilen noch gehorchenden Armee zu erzeugen.

Und während die Leichen im Eiltempo obduziert werden, um für ein mögliches Kriegsverbrechertribunal Dokumente und Beweismaterial zu sichern, spricht Moskau mit unmenschlichem Zynismus von Inszenierungen ukrainischer Radikaler, die statt wirklicher Leichen zu sehen wären. Soeben wird bekannt, dass sie auch noch den UN-Sicherheitsrat angerufen haben, weil sie sich durch die Bilder ihrer eigenen Opfer vor der Welt diffamiert fühlen. Und auch diese Bilder sollen jetzt eine Provokation sein, die neue Verbrechen rechtfertigen.

An all dem waren unsere Regierenden in den vergangenen Jahrzehnten beteiligt. Nicht nur der korrupte und verlogene Helfer und Busenfreund des Kriegsverbrechers Putin, Gerhard Schröder. Auch seine ganzen Parteifreunde, die wie Bundeskanzler Scholz und der unsägliche Bundespräsident Steinmeier bis zuletzt beschwichtigt haben, während sie unsere Abhängigkeit von Putin in eine weltweit wohl einmalige Höhe trieben. Von Merkel gar nicht zu reden. Die Mutter der deutschen Nation verstand sich ebenfalls prächtig mit dem Diktator im Kreml. Wenn das der ukrainische Botschafter Melnyk ausspricht, wenn sein Präsident Selenskjy Merkel und Sarkozy nach Butscha einlädt, dann wird bei uns ihr undiplomatischer Redestil kritisiert. Gottseidank gibt es sie und ihre Klarheit, und nicht nur die Hunderte verlogener Diplomaten der Sorte Lindner.

Aber inzwischen muss ich auch sagen: Gottseidank haben wir Glück gehabt, dass Robert Habeck das Wirtschaftsministerium übernehmen konnte. Ein Lichtblick in dieser vielfarbig farblos schimmernden Regierung, in der hauptsächlich der kleinste Koalitionär FDP die meisten Stiche macht. Ich kann Habeck abnehmen, was er sagt. Wie eine gute Freundin mir zu einem Link auf ein Gespräch mit Robert Habeck bei Markus Lanz schrieb: „Habeck spricht nicht nur kompetent, er ist mittlerweile ja einer der ganz wenigen Politiker, die Fragen beantworten und nicht nur sagen, was sie sich vorher überlegt haben, egal was gefragt wird.“

Ich bin nach wie vor nicht überzeugt, dass wir nicht schneller und gründlicher den ÖL- und Gasbezug reduzieren oder gar stoppen könnten. Aber das Thema ist zu komplex, um es aus meiner Sicht und mit meinen Kenntnissen wirklich zu beurteilen. Und Habeck weiß offenbar, wovon er spricht und was er tut.

Wie ein Land auf eine  Katastrophe wie den brutalen Angriffskrieg Putins reagieren kann, wenn es sich nicht in solche Abhängigkeit gebracht hat wie Deutschland, ist in einem Beitrag der FAZ vom 3.4.22 nachzulesen. Die Ministerpräsidentin Litauens, Ingrida Šimonytė, wird darin so über Russland zitiert:

„Dieser Staat hat eine grundlose Invasion gegen eine Nation begonnen, die eine sicherere europäische Zukunft anstrebt. Ich hasse diese Debatte darüber, was wir tun sollen, um Russland nicht nervös zu machen. Sie scheren sich nicht um unsere Gefühle, seien Sie sich dessen sicher. Russland verstößt gegen alle Arten des Völkerrechts, die man sich vorstellen kann. Was ist falsch daran, wenn wir so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben wollen, ob nun in der Wirtschaft, der Kultur oder im Sport? Russland hat aufgehört, ein zivilisiertes Land zu sein. Ich weiß nicht, ob sie jemals eines waren, jetzt sind sie definitiv keines mehr.“