Während manches Geschrei über die mögliche Auslöschung der Menschheit durch eine sich selbstständig machende KI an das frühere Gerede über die Gefahr des Robotereinsatzes für Arbeitsplätze erinnert, beginnt die Industrie ganz konkret über den möglichen KI-Einsatz nachzudenken oder ist bereits in Pilotprojekten. Für mich besteht kein Zweifel, dass dieser Einsatz schon bald den Erfolg der Industrie ausmachen wird.
Als die Roboter in die Industrie kamen, war die Furcht groß, dass sie menschliche Arbeit überflüssig machen und folglich massenhaft Arbeitsplätze vernichten würden. Jahrzehnte später ist Deutschland beziehungsweise Zentraleuropa nicht zuletzt gerade wegen der massenhaften Einführung von Roboter-gestützter Automatisierung – ähnlich wie Japan – weltweit aufgrund seiner hervorragenden Produkte nach wie vor ein Industriestandort. Zumindest in der Industrie wird über Fluch oder Segen von Robotern kaum noch diskutiert. Zu eindeutig sind die Vorteile. Und ganz nebenbei: Derzeit haben wir wenig Arbeitslosigkeit, aber geschätzt eine halbe Million fehlender Fachkräfte.
Wir reden hier von Robotern, die in der Regel einen oder zwei Arme simulieren. Meist viel größer und stärker als menschliche Arme. Diese Arme bewegen sich sehr genau so, wie man sie trainiert hat. Ganz ohne Augen und auch schon lange vor der modernen KI. Und an Stellen, wo der Mensch mit seinen Armen unter Umständen überhaupt nicht hinkäme. An diese Arm-Roboter haben wir uns mittlerweile gewöhnt.
ChatGPT hatte nach seiner Freigabe Ende 2022 so schnell wie kein anderes System zuvor mehr als 100 Millionen Nutzer. Es gibt kaum einen Bereich in Wirtschaft und Gesellschaft, in dem diese auf Sprachmodellen basierende KI nicht schon ausprobiert wurde. Teils mit erstaunlichem und überraschendem Erfolg, teils wieder mit gravierenden Fehlern, wie wir sie aus den Sprachmodellen der letzten Jahrzehnte schon kannten.
Der erstaunliche Erfolg beruht auf der Weiterentwicklung der Algorithmen, der wachsenden Erfahrung im Trainieren der KI und dem ungebremst steilen Anstieg der verfügbaren Datenmasse. Die Fehler sind teils erklärbar durch die Tatsache, dass die Technologie immer noch in den Kinderschuhen steckt. Andererseits aus viel zu großen Erwartungen an die KI und ihrer Überschätzung.
Und wieder gibt es einen Alarmismus, der diesmal nicht nur die menschliche Arbeit bedroht sieht, sondern gleich die Menschheit selbst. Die KI sei geradezu ein Menschheitskiller. Wenn wir sie nicht sofort bremsen, dann macht sie sich irgendwann selbstständig und löscht uns aus. Hier wird KI nicht mehr als Technologie diskutiert, sondern so, als könne sie dem Menschen selbst zur Konkurrenz werden.
Nicht die KI, sondern ihr Einsatz durch den Menschen kann zur Gefahr werden
Um die Verwirrung noch zu vergrößern, finden sich unter den bekanntesten Vertretern eines solchen KI-Moratoriums ausgerechnet führende Köpfe der KI, etwa Multimilliardär Elon Musk oder Apple-Mitgründer Steve Wozniak. Schon fast lustig ist es, wenn Sam Altman, der Chef von Open AI, also des Herstellers von ChatGPT, sich vor dem US-Kongress ebenfalls besorgt zeigt, was alles schief gehen könne mit der KI.
Wer sich gegen diese Menschheitsuntergangsstimmung wappnen und wieder festen Boden unter die Füße bekommen will, dem empfehle ich die Lektüre zweier knackiger Gastbeiträge von Prof. Ralf Otte in der FAZ („Die große KI-Illusion“ am 24.5.2023, und „Auslöschungsrisiko? Die Künstliche Intelligenz wird gerade gewaltig überschätzt“ am 19.6.2023).
Ralf Otte ist kein Professor der Ethik oder Philosophie. Er arbeitet am Institut für Automatisierungssysteme an der Technischen Hochschule Ulm. Er weiß also, wovon er redet. Er bringt den prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und KI-Maschine gut verständlich auf den Punkt. So schreibt er Ende Mai:
„Wenn ein Leser einen KI-Fachmann fragen würde, ob er ihm ein neuronales Netz in einem Computer konkret zeigen könnte, sozusagen mit Lupe und Pinzette, so würde er erfahren, dass es gar keine neuronalen Netze im Computerspeicher gibt. Alles, was man dort vorfindet, sind mathematische Gleichungen und Algorithmen, alle Deep-Learning-Netze sind pure algorithmische Simulationen. Nicht so im Gehirn, dort sind reale neuronale Netze zu finden, sogar einzeln zu detektieren und unter einem Mikroskop zu untersuchen. Die Informationsverarbeitung im Gehirn ist ohne jedwede Software vollständig im Gewebe abgebildet, im einzelnen Neuron, in der Topologie des Netzwerkes.“
Und an anderer Stelle im selben Artikel:
„Ein Siliziumkristall in einem Computer (…) ist einem Stein näher als einer primitiven Amöbe, ein Siliziumkristall wird – genauso wie ein Stein im Garten – niemals etwas wollen. Tote Systeme wünschen nichts, und sie führen auch keinen Kampf ums Dasein, egal wie gut die entsprechenden Science-Fiction-Filme sind, die solchen Stoff verarbeiten.
Deswegen sind die aktuellen Rufe nach einem KI-Moratorium Nebelkerzen, sie lenken die Sorge geschickt auf die Technik selbst – und nicht dorthin, wo wir wirklich aufmerksam sein sollten: bei der schleichenden Machtübertragung auf technische Geräte, die über uns Menschen entscheiden. Die Eigentümer dieser technischen Geräte hätten dann einen nahezu unüberwindbaren Schutzwall zwischen sich und uns eingeführt.“
Nicht die KI ist eine Bedrohung und wird es auf Basis heutiger Computer jemals sein. Aber aus ihrer Anwendung durch Menschen kann eine reale Bedrohung erwachsen. Menschen und Organisationen, die KI besitzen und ihren Einsatz im großen Stil vermarkten, wie etwa die großen Konzerne Amazon Web Services, Google, Microsoft und einige andere, sollten deshalb bei diesem Geschäft sehr klaren Regeln unterworfen werden. Und Menschen, die an den Schalthebeln der politischen Macht sitzen, sollten erstens wissen und beurteilen können, was KI ist, und zweitens ebenfalls sehr klaren Regeln unterworfen werden, wenn sie die KI zur Ausübung ihrer Macht einsetzen.
Sichere Rahmenbedingungen für industrielle Kopf-Roboter
Die Fertigungsindustrie geht bislang weitgehend recht pragmatisch mit KI um. Sie sucht nach den sinnvollen Anwendungsfällen, den berühmten Use Cases, um beispielsweise die industriellen Prozesse zu optimieren oder Energie effektiver einzusetzen und zu sparen. Das Problem ist auch heute wieder nicht die Gefahr von Arbeitsplatzvernichtung. Das Problem ist, dass die Daten der industriellen Prozesse ein lebenswichtiges Kapital der Industrie sind.
Die Entwicklungsdaten der Ingenieure, die Daten aus Produktion und Montage, die Daten der Produktionsanlagen und der Prüfvorrichtungen, die Daten aus dem Produkteinsatz beim Kunden und viele andere Daten mehr – sie sind für das Unternehmen und seinen Markterfolg entscheidend. Es kann sie nicht ohne Weiteres wie der private Nutzer einer Suchmaschine oder eines E-Commerce-Marktplatzes für das Trainieren einer KI bereitstellen. Es muss garantiert sein, dass dieses Firmenkapital dann nicht verloren ist. Etwa, weil die genannten Unternehmen von der US-Regierung zur Herausgabe der Daten verpflichtet werden können. Oder weil ein Mitbewerber die Daten für einen unlauteren Schritt im Wettbewerb nutzt.
Deshalb ist es mehr als wünschenswert, dass es außer den im Konsumbereich zu den absoluten Weltmarktführern in der KI herangewachsenen Konzernen aus den USA und China vertrauensvolle KI-Anbieter gibt, denen man die Daten für Analyse und Auswertung geben kann, weil mit ihnen Verträge abgeschlossen werden können, die unseren Regeln des industriellen Wettbewerbs entsprechen. In diese Richtung gehen beispielsweise GAIA-X und die inzwischen zur Friedhelm Loh Group gehörende German Edge Cloud.
So sicher es ist, dass unser Industriestandort ohne Arm-Roboter und die bisherigen Formen der Automatisierung nicht seine Position in der Welt erreicht hätte und behaupten könnte, so sicher ist, dass nun die Kopf-Roboter, also die KI-Systeme, in die Industrie kommen. Eine weitere Herausforderung ist dabei eine typisch industrielle: So wie die Arm-Roboter für die unterschiedlichsten Zwecke in allen Bereichen der Industrie und darüber hinaus industriell entwickelt und gebaut werden mussten, so müssen jetzt die unterschiedlichsten Kopf-Roboter industriell entwickelt und gebaut werden.
Denn dass ChatGPT verfügbar ist, löst noch kein Automatisierungsproblem in einem Maschinenbau-Unternehmen. Die Industrie wird ihre speziellen KI-Systeme selbst bauen müssen. Um auf die Sorge um Arbeitsplätze zurückzukommen: Es wird sehr wahrscheinlich sehr bald eine große Branche mit sehr vielen Arbeitsplätzen geben, die sich auf Forschung, Entwicklung, Bau, Vertrieb und Einsatz industrieller KI konzentriert. Hoffentlich und wahrscheinlich hierzulande. Im Land der Hardwarespezialisten und Vorreiter in Industrie-Automatisierung. Lasst die Kopf-Roboter kommen.
(p.s.: Die Bilder sind übrigens nicht mit KI erzeugt, sondern vom Bilddienst 123rf heruntergeladen.)