Meine letzten Kolumnen handelten Anfang April von der noch nicht vollendeten Zerstörung Mariupols, diesmal wieder durch die Russen, und Anfang März von der Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine. Danach fand ich eine Denk- und Schreibpause angebracht. Jetzt treibt es mich seit Wochen, ein paar positive Gedankensplitter zu verbreiten. Was hat sich geändert?

Erstens ist am heutigen 235. Tag des Krieges die Situation in der Ukraine so, dass sie Mut macht und nicht nur Wut. Und zweitens ist auch das iranische Volk gerade dabei, Mut zu machen, denn es begehrt zum ersten Mal seit 1979 im ganzen Land und in allen Schichten gegen das religiös fanatische Ajatollah-Regime auf und ist vorläufig durch keine Gewalt zu stoppen.

Putins Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar machte Angst und ohnmächtige Wut, denn nach der herrschenden Logik war es nicht nur unwahrscheinlich sondern völlig unmöglich, dass die – obwohl Europas Land mit der größten Fläche – für klein und hilflos gehaltene Ukraine sich länger als ein paar Tage gegen die Übermacht der Russen würde halten können.

Fast acht Monate später hat sich das schon nach wenigen Tagen offensichtliche logistische Desaster auf Seiten der Angreifer aber als Menetekel erwiesen. Die mal auf 30 mal auf 60 Kilometer lang geschätzte Kolonne der russischen Armee, die eigentlich Kiew hatte einnehmen sollen, kam nicht nur nicht vom Fleck, sondern wurde selbst fast täglich zum Ziel erfolgreicher Attacken der Ukraine und musste schließlich die Flucht über die nächstgelegene Grenze antreten. Kiew kehrte zum fast normalen Alltag zurück.

Foto von ZEIT-Artikel am 6. Oktober 2022

Putin verlagerte seinen Angriff in den Osten und Süden, wo die von ihm „anerkannten“ und inzwischen angeblich annektierten Gebiete mehr Erfolgsaussichten versprachen. Auch das führte zu keiner Wende. Die anfänglichen Überraschungserfolge in Cherson und der Umgebung von Charkiw lassen sich durch die Angreifer kaum halten. Stattdessen sehen wir gestern Bilder von brennenden Treibstofflagern der Russen in Belgorod und vor einer Woche die durch eine Sprengung für den Nachschub fast untauglich gemachte russische Brücke auf die Krim.

Aber was wir vor allem sehen: Männer und Frauen, Alte und Kinder, in freien und wieder befreiten Orten, die ihre Gewissheit in die Kameras lächeln, dass Putin und sein Raketenterror zum Scheitern verdammt sind. Weil sie ihre Freiheit nie im Leben gegen das Sklavendasein eintauschen wollen, das in Russland seit Jahrhunderten von den Herrschern verlangt und vom Volk akzeptiert wird. Und wir sehen einen Präsidenten Selenskyj, der seit fast acht Monaten jeden Tag seinen Landsleuten und der Welt sagt, wie sich die Lage entwickelt und was am dringendsten benötigt wird, um den Krieg schnell zum Ende zu bringen. Ein Ende, das nur im völligen Rückzug der Russen vom ukrainischen Territorium einschließlich der Krim bestehen kann. Ein Präsident, der diese Botschaften im Februar damit begann, dass er auf das Angebot einer Fluchtmöglichkeit durch die USA antwortete, er brauche Waffen, keine Mitfahrgelegenheit.

Das macht Mut. Es zeigt, dass keine Macht und kein Atomwaffenarsenal in der Welt erfolgreich den Willen nach Leben, Freiheit und menschlicher Würde unterdrücken können, wenn das Volk zusammensteht und sich seiner gemeinsamen Stärke bewusst ist.

Screenshot bei Suche nach „Mahsa Amini“

Nun erleben wir seit Ende September das zweite Beispiel, das beinahe noch mehr Mut macht. Im Iran hat die tödliche Misshandlung der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini wegen nicht richtigen Tragens ihres Kopftuchs zu einem Aufstand geführt, wie es ihn noch nicht gab. Er hat alle Landesteile erfasst, auch Provinzen, die noch von keinem der Proteste in den vergangenen Jahren berührt waren. Was die Machthaber dazu zwingt, bewaffnete Kräfte aus Teheran und anderen großen Städten zur Verstärkung dorthin zu bringen, wo sie bisher glaubten, keine zu benötigen.

Der Aufruhr hat auch alle Schichten erfasst. Händler in den Basaren haben ihre Läden geschlossen, um sich daran zu beteiligen.

Arbeiter und Spezialisten in der Öl- und Chemieindustrie sind in den Streik getreten. Anwälte und Richter haben vor öffentlichen Gebäuden gegen ihre Regierung die Stimme erhoben. Und nun wird – wie im Februar in der Ukraine – eifrig gelernt, wie sich Molotow-Cocktails gegen die Gewaltherrschaft bauen lassen. Das Motto des Aufstands kennt die ganze Welt: Frau, Leben, Freiheit!

Es hängt im Iran nichts davon ab, ob die richtigen Anführer an der Spitze stehen. Im Gegenteil scheint dort gerade entscheidend zu sein, dass von den Gewaltherrschern keine Gruppe, keine Person und kein Ort zu identifizieren sind, die eine besondere Rolle spielen. Als dramatisch für die Mullahs könnte sich erweisen, dass selbst die ärmsten Teile des iranischen Volkes, die 1979 das Fundament der Revolution gegen das von der CIA installierte Schah-Regime bildeten, sich nun ebenfalls gegen das Regime wenden.

Wenn die Ukraine gegen Putins Gewaltregime und das iranische Volk gegen die mittelalterlich herrschenden Ajatollahs erfolgreich kämpfen können, gibt es guten Grund zur Hoffnung, dass der Mensch eben doch einen Weg in eine friedliche, lebenswerte Zivilisation finden kann.

Was gibt es für erste Lehren, die auch unabhängig vom weiteren Verlauf sind? Weder in der Ukraine noch im Iran spielen politische Parteien derzeit irgendeine Rolle. Weder da noch dort ist das oberste Ziel die freie Wahl von Repräsentanten. Freiheit und menschenwürdiges Leben für alle sind die Ziele, hinter dem sich alle versammeln können. Dass im Iran die Frau ganz vorn steht, ist kein Widerspruch. Im Gegenteil. Vor hundert Jahren begannen die Völker der Welt mit dem noch nicht beendeten Kampf um gleiche Rechte für Frauen. Die islamischen Fanatiker haben diesem Kampf einen schweren Schlag zugefügt. Wenn es den Iranerinnen und Iranern gelingt, den stärksten der islamischen Staaten ins Wanken zu bringen, dann hilft dies der Menschheit insgesamt.

Wo einst die Frauen eine größere Rolle zu spielen schienen, weil Sozialismus und Kommunismus sich das ja auf die Fahne schrieben, da sind heute fast ausschließlich alte Männer an der Macht: in China wie in Russland. Es ist an der Zeit, der Geschichte zu glauben. Die Begriffe „links“, „sozialistisch“ und „kommunistisch“ stehen nicht für den Fortschritt der Menschheit, sondern für einen dramatisch fehlgeschlagenen Zwischenschritt, der ungezählte Millionen Menschenleben gekostet hat. Wer das nicht glaubt, der schaue auf die Straße und in die Parlamente bei uns, wo sich die Linke mit der rechtsextremen AFD einig darin ist, dass man nicht die Ukraine sondern Putin unterstützen soll. Das reicht bis hinein in die alten und mir bekannten Zirkel von Menschen, die nach der Studentenbewegung etwa den KBW gründeten und später die Grünen und Linken stärkten. Viele von ihnen haben nichts gelernt aus der Geschichte. Jetzt sind sie so alt, dass sich das wohl auch nicht mehr ändert. Sie sind auch nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass sich die Welt ändert.