Viel ist in diesen Tagen die Rede vom Desaster in Afghanistan. Gemeint ist nicht die 20-jährige Besetzung, sondern fast immer das fatal Ungeordnete des Rückzugs und das offensichtlich wahlkampftaktisch von den amtierenden deutschen Ministern für nötig gehaltene Zurücklassen vieler, die vor den neuen/alten Zuständen fliehen wollten. Nur selten hat man das Glück, von einem Kenner des Orients wie dem Deutsch-Iraner Navid Kermani, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, über die 40-jährige Schuld und wirkliche Katastrophe zu hören, für die der Westen verantwortlich ist. Der Titel seines Gastbeitrags letzte Woche in der FAZ: Afghanistan-Rückzug : Für drei Dollar am Tag.
Ich wusste nicht, dass die Schulmädchen in den Sechzigerjahren schon mal ganz unbekümmert aus dem Haus gingen und die Frauen westlich gekleidet in den Medien des Landes aktiv waren, wie die Bilder im Gastbeitrag beweisen. Handfeste Gründe trieben die Russen 1979 dazu, das Land mit Waffengewalt unterwerfen und der Sowjetunion einverleiben zu wollen. Und vermutlich trieben dieselben Gründe bereits damals die USA unter Ronald Reagon dazu, mit Unterstützung der finstersten arabischen Mächte die Mudschahedin unter der späteren Führung von Osama Bin Laden zu erfinden und zu bewaffnen. Kermani: „Das heißt, das militärische Engagement des Westens begann nicht etwa 2001 mit der Invasion, sondern bereits vor mehr als vierzig Jahren. Und es war von Beginn an eng verknüpft mit dem radikalen politischen Islam, der als Gegenkraft zur Sowjetunion systematisch gefördert wurde.“ In der Hoffnung, dieses Juwel von Land in die Finger zu bekommen, ohne selbst Soldaten zu schicken. So kurz nach dem Desaster-Rückzug aus Vietnam Mitte der Siebzigerjahre, dem die jetzigen Bilder verteufelt ähnlich sehen.
Kermani weiter: „Unter den vielen Lügen, die den Einsatz des Westens in Afghanistan begleiteten, ist die größte wahrscheinlich diese: Es gehe um die Freiheit der Afghanen. Nein, es geht um Interessen, und darum ging es von Anfang an. Genauso wie Iran und Pakistan, wie Russland, Indien und inzwischen mit aller Macht auch China verfolgt die westliche Staatengemeinschaft am Hindukusch wie überall sonst auf der Welt ihre eigenen strategischen, sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen.“
Der ungeheure Reichtum Afghanistans
Da er nicht konkreter wird, was die ökonomischen Interessen sind, hier ein paar Fakten zu den ungeheuren Bodenschätzen, die Afghanistan neben Lapislazuli unter seiner Erde hat. Und welche die vom Westen – mit Hilfe von Wahlen – am Regieren gehaltenen, korrupten Warlords und Drogenbarone dann tatsächlich den internationalen Investoren für Jahrzehnte zum Abbau dargeboten haben, ohne die Erträge dem afghanischen Volk zugutekommen zu lassen. Sie garantierten, dass es keine Verstaatlichung der Minen geben werde. Das, was sie aus den Lizenzen in die eigene Tasche abzweigen konnten, reichte ihnen.
Das Institut für Seltene Erden und strategische Metalle (ISE) mit Sitz in Zug, Schweiz, veröffentlichte 2012 einen Bericht, in dem es hieß: „Die Liste an mineralischen Bodenschätzen liest sich wie die Wunschliste einer Industrienation. Lithium, Beryllium, Edelsteine, Seltene Erden, Kupfer, Molybdän, Gold, Niob, Blei, Zink, Öl, Gas und Kohle sind in Afghanistan bereits nachgewiesen. Weiterhin verfügt das Land im gesamten Osten über mehrere Milliarden Tonnen hochwertiges Eisenerz. Von Kabul bis Kandahar verläuft eine sehr reichhaltige Chromader. In Mittelafghanistan sind große Mengen an Bauxit nachgewiesen, dies ist ein Aluminium Erz. Marmor und Granit sind über den Osten und Mittelafghanistan verteilt. Öl und Gasvorkommen gibt es im Norden. Das Gesamtpotential an Öl Ressourcen in Afghanistan wird auf 1,6 Mrd. Barrel und die Gas Ressourcen auf 15.690 Mrd. cf geschätzt.“

Auch geopolitisch ist Afghanistan – mit unmittelbaren Grenzen zu Iran, China und Pakistan – für die Weltmächte immer hochinteressant gewesen und ist es noch. Kermani dazu: „Afghanistan stand schon einmal im Fokus der Weltpolitik, und zwar im sogenannten Great Game des späten neunzehnten Jahrhunderts, als das britische Empire und das zaristische Rußland um die Vorherrschaft am Hindukusch rangen. Danach aber, seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als es für den Rest der Welt ein abgelegenes, irgendwie verträumt wirkendes Land war, entwickelte Afghanistan sich nicht so schlecht.“

Kabul um 2011 (Stockfoto 123rf)
Es war einmal eine friedliche Perle im Orient
Die dann folgende Beschreibung dieser Entwicklung verschlägt einem die Sprache, denn alle Nachrichten der letzten 20 Jahre klangen so, als sei das Land schon immer hoffnungslos rückständig gewesen. Kermani aber schreibt: „Allgemeine Wahlen wurden eingeführt, in den Städten formierte sich ein säkular ausgerichtetes Bürgertum, die Bürokratie funktionierte leidlich. Es gab einen Staat und nicht nur ein Potemkinsches Dorf. Die Lastwagen, die Mercedes Benz in Afghanistan baute, wurden bis nach Indien exportiert, der Frauenanteil an den Universitäten stieg von Jahr zu Jahr, und die Jazzclubs galten als die besten des Orients. Sicher, auf dem Land waren die Menschen bitterarm, in den Dörfern hielten sich archaische Sitten, aber immerhin versorgte sich das Land weitgehend selbst, die Alphabetisierung nahm Tempo auf – es war ein Fortschritt zu erkennen. Viele westliche Reisende haben Afghanistan seit den Sechzigerjahren als ihr Traumziel entdeckt, wo sie überall willkommen waren und – heute unvorstellbar – selbst in den abgelegensten Provinzen sicher reisen konnten. Es herrschte Frieden!“
Aber dann kamen die russische Besetzung und die US-Finanzierung der Islamisten: „Ihren Tiefpunkt erreichte die westliche Afghanistan-Politik allerdings erst nach dem Sieg der Mudschahedin. Denn der brachte nicht die erhoffte Befriedung, die es dem Westen erlaubt hätte, sich in Afghanistan wirtschaftlich zu engagieren, an die immensen Bodenschätze zu gelangen, die Wasserversorgung der gesamten Region zu kontrollieren und einen stabilen Bündnispartner an der Kreuzung von Iran, Russland und China zu etablieren. Wieder mit Hilfe von Pakistan und Saudi-Arabien baute Washington die noch einmal viel radikaleren, sunnitisch-extremistischen Taliban auf, denen das Land dank amerikanischer Sturmgewehre, prall gefüllter Kriegskasse und einer verängstigten, kriegsmüden Bevölkerung fast von selbst zufiel. In der Folge herrschte ein Schrecken, den mittelalterlich zu nennen dem Mittelalter Unrecht tut. Notiz davon nahm die Weltöffentlichkeit allerdings erst, als der Terror am 11. September 2001 übergriff. Westliche Realpolitik hatte den größtmöglichen realpolitischen Schaden angerichtet.“
Kermanis Resümee ist vernichtend: “Zwanzig Jahre nach Beginn des westlichen Engagements sind die Straßen oft in einem noch schlechteren Zustand als unter den Taliban und weist die medizinische Versorgung ebenso wie die Versorgung mit Strom und Wasser gewaltige Lücken auf. Sieht man vom Bildungsbereich ab, ist das Resultat des westlichen Engagements desaströs. Der Bauboom der letzten Jahre in den Städten, die neuen Shoppingmalls, Restaurants und gated communities sind kein Zeichen einer gesunden Wirtschaft, sondern zum größeren Teil aus dem Opium finanziert, das seit Beginn des westlichen Rückzugs 2014 wieder ungehindert angebaut wird.
Allerdings folgte das westliche Engagement ungeachtet der wohlklingenden Bekenntnisse und stylishen Powerpointpräsentationen stets einer militärischen Logik und lag das Verhältnis von Militärausgaben und ziviler Hilfe entsprechend bei sieben zu eins. Und von den vergleichsweise wenigen Milliarden, die tatsächlich nach Afghanistan gelangten, floss das allermeiste zurück in Form von Aufträgen an multinationale Konzerne, Provisionen an Sub- und Subsubunternehmen, fast durchweg aus dem Ausland importiertem Material, Löhnen für ausländische Arbeitskräfte bis hin zum Catering, für das jede Zwiebel aus dem Ausland eingeflogen wurde. Viel war von der NATO die Rede, aber niemals von den nepalesischen Söldnern, die die westlichen Soldaten und hoch bezahlten Sicherheitsdienste bewachten und ebenfalls vom Budget abgingen. Das importierte Wasser, das ein westlicher Berater trank, kostete mehr, als ein afghanischer Arzt verdiente, im Schnitt drei Dollar am Tag.“

US-Konvoi in Kabul 2012 (Stock-Foto 123rf)
„Die Taliban haben Afghanistan nicht „erobert“, wie anderswo eine Streitkraft in ein Gebiet eindringt. Aus afghanischer Sicht hatte Amerika sie in Doha ein zweites Mal zu Herrschern ausgerufen. Nicht weil sie feige gewesen wären, haben die afghanischen Soldaten am Ende nicht mehr gekämpft. Der Vorwurf ist angesichts des immensen Blutzolls der Armee im Kampf gegen die Taliban perfide und unmoralisch.“
In der FAZ gab es dazu konkrete Zahlen im Artikel „Die Mär von der feigen afghanischen Armee„: „Allein die Zahl der Gefallenen (Afghanen, Anm. von mir) seit 2014 wird auf mehr als 65.000 beziffert. Die westliche Allianz verlor insgesamt 3.600 Männer und Frauen, darunter etwa 2.500 Amerikaner. Zeitweise fielen bei der afghanischen Armee mehr als 1.000 Soldaten pro Monat, weitere 2.000 wurden verwundet.“
Der Westen, nicht Russland, hat heute das offenbar unregierbare Afghanistan auf dem Gewissen. Das ist unsere westliche Schuld, nicht der überhastete Abzug nach dem Debakel der sogenannten Verhandlungen zwischen Taliban und erst Trump, dann Biden.
Wer von den Politikern, die diesen deutschen Militäreinsatz über 20 Jahre durch ihre ständigen Mandatsverlängerungen zu verantworten haben, redet darüber? Keiner. Von der Union sowieso nicht. Von der mitregierenden SPD ebenfalls nicht. Aber auch von Grünen und FDP wird dazu geschwiegen. Stattdessen gibt es Lob von allen Seiten für die Soldaten, die gerettet haben, wie und wen sie noch retten konnten.
Fröhliches Wählen am 26. September!