Man muss kein Anhänger der US-Partei der Demokraten oder ihres führenden Personals sein, und man muss das Wahlsystem generell und erst recht das US-amerikanische nicht für der Staatsweisheit letzten Schluss halten, um einen Bürgerkrieg in den USA zu fürchten. Der könnte an diesem Wochenende beginnen. Oder ein von Teilen des Militärs gestützter Putsch, der Trump an der Macht hält.

Es ist erschreckend, wie stark weltweit das Wunschdenken verbreitet ist, die erste Demokratie der Neuzeit möge ohne weiteres Blutvergießen nicht nur überleben, sondern sich selbst erneuern. Tatsache ist, dass die Staatsgewalt trotz aller Kenntnisse über den drohenden und von Trump persönlich mobilisierten Sturm auf das Capitol in Washington den Aufrührern das Feld überlassen hat. Erst am 11. Januar kommen erste Hinweise aus dem FBI ans Licht, die die Öffentlichkeit vor neuerlichen und weit größeren Aufständen warnen. Das FBI Omaha ruft beispielsweise in KCRG dazu auf, alle Drohungen oder Ankündigungen zu melden, die auf bewaffnete Aufstände in Iowa hinweisen. Über 100 Teilnehmer am Sturm auf den Capitol Hill am 6.1. wurden festgenommen. Darüber hinaus an die 100 Verdächtige in  verschiedenen Bundesstaaten, die wohl als potenzielle Anführer in den kommenden Tagen kaltgestellt werden sollen.

In allen 50 Bundesstaaten weiß das FBI von Vorbereitungen auf bewaffnete Angriffe auf die Regierungssitze und Gerichtsgebäude. So ein internes Bulletin des FBI, das vor ein paar Tagen von CNN veröffentlicht wurde. Für das kommende Wochenende, drei Tage vor dem offiziellen und regulären Ende von Trumps Amtszeit, sind diese Angriffe geplant und wird im Netz dazu aufgerufen. Dann wäre der Sturm letzte Woche wirklich nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen auf den Beginn eines Bürgerkriegs, der alle Staaten erfasst.

In Washington wird von 15.000 bis 21.000 Nationalgardisten geredet, die schon am Wochenende und während der geplanten Amtsübernahme am 20. Januar die Hauptstadt schützen sollen. Heißt das zugleich, dass es für die 50 Hauptstädte der Bundesstaaten kaum bewaffneten Schutz geben wird? Und welche Auswirkung hat, dass Chad Wolf, der Heimatschutzminister, ausgerechnet in diesen Tagen und unmittelbar nach dem von ihm kritisierten Angriff auf das Capitol wegen „kürzlicher Geschehnisse“ zurücktritt?

In der FAZ gab es am 17. Januar ein Interview mit Richard Mack. Der Reporter fragt: „Wenn es Bürger gibt, die sich in der Pflicht sehen zu rebellieren, gibt es dann nicht eine sehr reale Gefahr von Gewalt und Blutvergießen?“ Darauf Mack: „Ja, die gibt es. Die gibt es in jedem Land. Venezuela hatte das, China auch. Ich glaube wirklich, wenn wir in unserem Land nicht zusammenkommen, dass die Gewalt unausweichlich ist.“ (FAZ, 17.1.2021, USA: Bewaffnete Trump-Anhänger über ihr Recht auf Widerstand)

Wie viel Zeit bleibt, um etwas zu ändern? Jahre? Monate? Oder nicht einmal das? Aber das Schlimme ist: Es gibt keine Idee und Debatte, was denn in welche Richtung zu ändern wäre. Zentrale Fragen brauchen dringend Antworten und eine allgemeine, gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie es sie seit den Siebzigerjahren nicht mehr gibt. Diese Debatte ist weltweit, nicht nur in den USA, notwendig. In der ganzen westlichen Welt, die von der Spaltung in Nationalisten und Vertreter der repräsentativen Demokratie betroffen ist. In den sich sozialistisch nennenden Ländern wie China, Vietnam, Cuba und anderen autokratischen Regimes gibt es dafür derzeit keine Chance. Meine Themen wären:

In einer Befragung von US-Bürgern gaben laut Statista 42 Prozent aller Haushalte an, über eine Waffe zu verfügen. Eine gut drei Jahre alte Untersuchung in der SZ zeigt die Verteilung der Waffen in der Zivilbevölkerung auf Basis einer Studie der Harvard- und Northeastern University. In den USA gab es auf 100 Einwohner 101 Waffen. 78 Prozent der Erwachsenen hatten demnach gar keine Waffen. Aber 19 Prozent verfügten über die Hälfte, während 3 Prozent im Besitz der anderen Hälfte aller Waffen war. „Geschätzt wird, dass 7,7 Millionen Amerikaner zwischen acht und 140 Waffen haben.“ (SZ vom 5.10.2017) Pro Person!

Das ist die Ausgangslage vor einem drohenden Aufstand der geschätzt rund 50 Millionen, die davon überzeugt sind, dass ihnen die Wahl Trumps gestohlen wurde. In dieser Situation zu glauben, dass die Machtübergabe friedlich ablaufen wird, scheint mir naiv. Trump hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er die Demokratie, ihre Parteien, ihr Wahlsystem und erst recht den Rechtsstaat, verachtet. Das System muss weg. Er will die Macht und er könnte sie sogar mit Hilfe des Militärs behalten.

Das war der Grund für den Zeitungsartikel der zehn noch lebenden „Verteidigungs“-Minister der USA. Männer, die ich noch für Kurzem für die schlimmsten Kriegstreiber der USA hielt. Auf einmal sind sie sich einig in der Verteidigung des Status Quo. Denn jetzt geht es um die Sicherheit im eigenen Land.

Mehr als ein Dutzend Flyer zirkulieren online, die für Pro-Trump Kundgebungen an staatlichen Regierungssitzen werben, so  eine Social-Media-Analyse von NBC News. „Freiheit ist ein Recht,“ sagt ein beliebtes Flugblatt, „Weigern Sie sich, zum Schweigen gebracht zu werden“ ein anderes. Die Angesprochenen werden aufgefordert, „zur persönlichen Sicherheit bewaffnet“ zu kommen. (NBC News 14.1.2021)

In einem Interview von ABC News (Australien) am 11. Januar nimmt der Professor für Internationale und Politische Studien an der University of New South Wales (UNSW) David Kilcullen Stellung zur aktuellen Lage. Seit Monaten zirkulierten diese Flugblätter, er selbst kenne sie spätestens seit der Wahl Anfang November. Wenn die Hälfte der Bürger glaube, die andere hätte ihnen die Wahl gestohlen, dann würden bewaffnete Kräfte des Staates allein die Lage nicht beruhigen können. Es sei eine sehr typische Ausgangssituation, wie wir sie von Revolutionen kennen. Trump habe großen Einfluss gehabt und habe ihn noch, aber unter den Aufrührern gebe es sehr starke Kräfte, die ihn inzwischen für einen Verlierer oder gar Verräter hielten. Prof. Kilcullen rechnet mit dem Schlimmsten für die kommenden Tage.

Mir kommt es vor wie die Situation, die ich aus den Geschichtsbüchern über die Oktoberrevolution kenne, nur mit einer extrem rechten, rückwärtsgewandten Ideologie. Eine ungeheure Zahl von Bürgern fühlt sich durch das herrschende System nicht vertreten, sondern verraten. Sie greifen zu den Waffen und wollen es beseitigen. Ohne dass in diesem Fall klar wäre, was danach kommen soll. Wenn es so kommt, wie es sich gerade abzeichnet, dann wird der nächste Wochenschauer vielleicht eine traurige Bilanz ziehen. Ich hoffe sehr, dass ich mich täusche.