Das System ist in aller Munde. Es wird skeptisch, wütend, verteidigend, glorifizierend oder verachtend diskutiert. Nur grundsätzlich infrage gestellt wird es nicht. Schon die Skepsis, die sich selbst im bürgerlichen Milieu breitmacht, wird verabscheut. Dabei gibt es doch gute Gründe, dieses System prinzipiell infrage zu stellen.
Ein nicht mehr zu stoppender Klimawandel, mehr als 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, eine vorhergesagte Pandemie – das Ende einer Wohlfühlordnung der Welt ist mit Händen zu greifen und nicht mehr zu übersehen. Und doch mussten zu Beginn des Shutdowns noch über 200.000 Urlauber aus Partyzonen rund um den Erdball zurückgeholt werden, als die Fliegerei plötzlich zusammenbrach.
Die Länder, die in den letzten 250 Jahren die Industriegesellschaft etabliert und deren System in der Welt durchgesetzt haben, geben sich selbst auf. Großbritannien ist nicht einmal mehr ein führendes Land in Europa, es ist ausgetreten und hat einen Clown zum Premierminister gemacht. Die Menschen in den USA, deren Verfassung immer als die Grundlage der modernen Demokratie galt, haben mit ihrem Wahlrecht einen selbstsüchtigen Rassisten, Sexisten und Möchtegern-Diktator zum mächtigsten Mann der Welt gemacht und steigen mit ihm aus einer multinationalen Organisation nach der anderen aus. Kaum einer außer seinen Wählern glaubt ernsthaft, dass damit die USA wieder groß werden.
Man könnte sagen, das System, das wir haben, ist überholt, ja geradezu verfault. Das System der parlamentarischen Demokratie, für das das Wahlrecht als oberstes Gut gilt, erweist sich als ungeeignet, um mit den Herausforderungen der Zeit fertig zu werden. Und die, von denen es geprägt wurde, führen es wie eine Karikatur seiner selbst vor.
Das kann man sagen, auch wenn man nicht das chinesische System möchte, oder das russische, oder das brasilianische, das türkische, das ungarische, oder irgendein anderes der autoritären Systeme, in denen sich jeder fürchten muss, auch nur die eigene Meinung zu sagen oder zu schreiben. Aber das sagt im Umkehrschluss nicht, dass unser System für die jetzige und erst recht die künftige Zeit noch das richtige ist.
Was dann?
Ja, das ist die große Frage. Welches System könnte sich die Gesellschaft bauen, mit dem sie Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz aktiv gegenübertritt? Mit dem sie zu gestalten beginnt, statt auf ein Desaster nach dem anderen – wenn überhaupt – nur zu reagieren? Darauf gibt es im Moment keine Antwort. Es ist nicht einmal so, dass man im sonst so allwissend scheinenden Internet auf irgendeinen Kreis stoßen würde, der sich darüber Gedanken macht. Denn das System, das wir haben, ist das einzige, das wir kennen. Es ist der letzte Teil der alten Ordnung der Welt, der – zumindest in Deutschland – noch nicht über den Jordan ist.
Nun auch noch dieses System selbst infrage zu stellen, macht den Menschen noch mehr Angst als all das Katastrophale, mit dem sie täglich konfrontiert sind.
Und doch sollten wir uns genau darüber Gedanken machen. Mit einem Blick auf die erste und zweite Menschheitsrevolution und darauf, wie die Menschheit damit umgegangen ist. Denn wir stehen mitten im Beginn einer dritten Menschheitsrevolution, auch wenn sie noch keinen Namen hat.
Die ersten beiden Menschheitsrevolutionen
Die erste, die landwirtschaftliche Revolution, der Wechsel vom Jagen und Sammeln zum Züchten und Anbauen, dauerte von der Jungsteinzeit vor 12.000 Jahren bis etwa 1.000 vor Christus. Gegen Ende dieser fast 10.000 Jahre kämpften die Griechen einige Jahrhunderte um die für sie beste Form der Demokratie. Sie schafften dabei das Wahlrecht ab, das ihnen als eines der größten Mankos erschien. Aristoteles hielt Wahlen für aristokratisch und nur das Losverfahren für demokratisch. Die freien Griechen, die das taten, waren Grundbesitzer, Bauern, Wissende und Lehrende, die sich über den Gang der Welt Gedanken machten und diese Gedanken in gesellschaftliche Realität umsetzten. Sie konnten das, weil die Sklaven, die Frauen, die Zugereisten und Händler ihnen das Essen zubereiteten, während sie auf der Agora debattierten. Und weil sie die anerkannten Vertreter der landwirtschaftlichen Revolution waren.
Die zweite, die industrielle Revolution, begann vor 250 Jahren in Europa und den USA, und gleich zu Beginn sorgten die freien Männer der neuen Gesellschaft, die Adeligen, Großgrundbesitzer und nun vor allem die Fabrikbesitzer, für eine Art von Demokratie, die mit der antiken attischen nichts zu tun hatte. Das Wahlrecht war für die Gründerväter der USA gerade der Garant dafür, dass die Reichen und Gebildeten die Macht in Händen behielten. Bis heute kann niemand einen Wahlkampf in den USA starten, der nicht über Abermillionen verfügt. Am Anfang konnte man sogar nur wählen, wenn man einen gewissen Steuerbetrag zu zahlen hatte, und die Frauen und Schwarzen sowieso nicht. Auch in diesem Fall sorgten die Sklaven, die Schwarzen, die Frauen, die Armen dafür, dass die freien weißen Männer die Zeit hatten, sich in den Town Halls zu versammeln und die Verfassung der neuen Zeit zu entwerfen. Sie standen anerkanntermaßen für die Zukunft der neuen Industriegesellschaft.
Die noch namenlose dritte Menschheitsrevolution
Heute haben – jedenfalls in Deutschland und weiten Teilen Europas – auch Frauen, Schwarze und Arme das aktive und passive Wahlrecht. Alle sind vor dem Gesetz gleich und frei. Aber es fehlt eine Klasse von Menschen, der irgendjemand die Gestaltung der Zukunft anvertrauen würde. Die Internetgiganten sind es nicht, die Billionäre unter den Finanzinvestoren sind es nicht, und die Industrievorstände und ihre Verbände verstehen selbst nicht mehr, was mit ihnen geschieht. Die geistige Elite und die Medien aller Art haben keine Antworten. Warum gehen wir nicht an eine Gestaltung der Zukunft, in der nicht mehr irgendwelche Einzelgruppen das Sagen haben? Warum stellen wir nicht das System und sein merkwürdigerweise geheiligtes Wahlrecht infrage?
In einzelnen Fällen haben per Losverfahren zusammengestellte Kommissionen gezeigt, dass auf diese Weise viel schneller viel bessere Gesetze zustande
kommen. Etwa der neue Verfassungsartikel, der seit ein paar Jahren auch in Irland die Rechte der Homosexuellen schützt und von mehr als 60 Prozent der Menschen befürwortet wurde.
Man muss nicht den sogenannten Querdenkern auf die Straße des 17. Juni folgen. Sie wollen nur ihre Angst und Wut über die neue Realität herausbrüllen, die sie nicht mehr verstehen, die ihnen das Feiern und den Luxus ohne Reue nimmt, und auch die Normalität, die ihnen so wichtig ist.
Aber wir müssen uns Gedanken machen, was für eine Zukunft nach dem Ende der bekannten Normalität kommen soll. Wie wir sie gestalten können. Wie wir darin für die Menschen ein Leben in Würde und gegenseitigem Respekt gewährleisten. Ich suche nach Menschen, mit denen ich mich über solche Gedanken austauschen kann.