Viele halten mich ja für einen unverbesserlichen Optimisten. Ich glaube tatsächlich, dass uns die Corona-Pandemie einige grundsätzliche Fehler unseres demokratischen Systems so klar vor Augen führt, dass uns das ein Neudenken ermöglicht. Manche in der Redaktion der Frankfurter Allgemeine Zeitung scheinen das auch so zu sehen. Aber eher als Gefahr.

„Was nützen Corona-Bürgerräte?“ fragt Rüdiger Soldt im Titel seines Kommentars in der FAZ am 23. November. „Die Zustimmung zur Pandemiepolitik erodiert. Die Regierungen müssen darum weiterhin Vertrauen schaffen. Doch mehr Bürgerbeteiligung ist in einer Krise wie dieser nicht die Lösung.“
Der Kommentator sieht einen ‚militanten Antiparlamentarismus‘ und schert konstruktive Kritiker mit Corona-Leugnern und Reichsbürgern über einen Kamm. „Manch ein Ministerpräsident fürchtet schon, dass er in einem „harten Corona-Winter“ den Bürgern die Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht mehr vermitteln kann. Und das, wo 2021 viele Wahlen anstehen.“
Und weiter: „Wie können die Regierungen weiterhin Vertrauen in die Seuchenpolitik schaffen? Demokratieforscher empfehlen, begleitend zu den parlamentarischen Verfahren „Corona-Bürgerräte“ einzusetzen. Die Grünen als führende Regierungspartei in Baden-Württemberg finden das gut und wollen Anfang des kommenden Jahres sogar ein „Bürgerforum mit Zufallsbürgern“ einsetzen, das über die Pandemiepolitik ergänzend beraten soll; es soll an der Staatskanzlei angesiedelt sein.“
Debatten schaden nie – aber entscheiden sollen die Bürger nicht
Die Antwort des Kommentators ist klar: „Debatten schaden nie in der Demokratie, aber Bürgerbeteiligungsverfahren sind träge. Sie können zur Befriedung festgefahrener und überschaubarer Konflikte, etwa beim Bau eines Wohngebiets, hilfreich sein. Für die Beherrschung einer sich dynamisch entwickelnden Pandemie, in der die Politik stark auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen ist, taugen sie nicht. Allein ein Impfstoff kann den Verlauf der Pandemie rasch verändern.“
Direkte Bürgerbeteiligung, erst recht Bürgerforen „mit Zufallsbürgern“ – das ist dem Kommentator offenbar ein Grauen und Ausdruck militanten Antiparlamentarismus. Sein gedanklicher Fehler liegt darin, Parlamentarismus mit dem durch Wahlen zustande gekommenen Parlament von Parteipolitikern gleichzusetzen. Zur Erinnerung: Aristoteles ging davon aus, dass Wahlen das probate Mittel für Aristokratien und Oligarchien sind. Weil sie Korruption und Einflussnahme Tür und Tor öffnen. Das Losverfahren schien ihm wie den meisten Protagonisten der attischen Demokratie das einzig wirksame Mittel, eine wirklich Vertretung der Bürger, eine Demokratie, zu errichten.
Der Kommentator der FAZ sieht Bürgerbeteiligungsverfahren als träge. Dabei gibt es ja heute fast keine solchen Verfahren. Vermutlich denkt er an Bürgerversammlungen, die einberufen werden, nachdem sich in einem Ort eine Bürgerinitiative gebildet hat, um Beschlüsse von Stadt, Land oder Bund zu verhindern oder zu verändern. Aber da ist ja das Kind immer längst in den Brunnen gefallen. Weil die Berufspolitiker gedacht haben, sie können in Berlin, Stuttgart oder Düsseldorf etwas beschließen, ohne die Bürger an den Beschlüssen zu beteiligen. Je näher an den Bürgern Beschlüsse fallen, desto größer sind die Chancen auf ihre zügige Umsetzung. Auch deshalb haben die Griechen keinen Staat über der Stadt gewollt. Corona gibt uns gerade wieder gute Beispiele an die Hand, dass das auch heute eine gute Idee ist.
Die ‚Erosion der Zustimmung‘ bedeutet ja nicht, dass die Bürger – wie Christian Lindner oder die Querdenker oder Alexander Gauland – mehr Freiheit und weniger Maßnahmen verlangen. Im Gegenteil. Vielen sind die Maßnahmen nicht konsequent genug. Vor allem aber wird eine Strategie vermisst. Und es gibt Kritik an einzelnen Maßnahmen und mehr noch an unterlassenen Maßnahmen im vergangenen Sommer. Nehmen wir das Beispiel Schule.
Die Schulen sind nicht systematisch auf einen stärkeren Einsatz digitaler Methoden ausgerichtet worden. Das RKI empfiehlt seit Langem bereits ab einem Inzidenzwert von 50 – der schien im Sommer bedrohlich hoch, inzwischen ist es im größten Teil der Republik ein kaum noch zu erreichendes Ziel nach unten –, das RKI empfiehlt also eigentlich allen Schulen im Land verkleinerte Lerngruppen „durch Teilung oder Wechselunterricht“. Die Kultusministerien der Länder haben diese Empfehlung aus der Wissenschaft nicht nur ignoriert. Wenn jemand versucht, so etwas in Angriff zu nehmen, schreiten sie sogar per Erlass dagegen ein.
Erlass gegen Solingen
Solingens Schuldezernentin Dagmar Becker legte einen den RKI-Empfehlungen entsprechenden und mit Eltern und Lehrervertretungen abgestimmten Plan für abwechselnd digitalen und analogen Unterricht vor, um die Schulen für die rund 20.000 Schüler der Stadt offen zu halten. Mit nur der Hälfte der Schüler im Klassenraum.
In Spiegel.de hieß es am 3. November: „Per Erlass hat das Gesundheitsministerium in Düsseldorf die Stadt angewiesen, ihr Konzept nicht umzusetzen – auf Verlangen des NRW-Schulministeriums. Das hatte bereits zuvor kräftig auf die Bremse getreten. Man müsse erst einmal prüfen, ob das Solinger Wechselunterrichts-Modell den rechtlichen Vorgaben entspreche und mit Blick auf das Infektionsgeschehen in der Stadt angemessen sei, hatte das FDP-geführte Ministerium seit Freitag wiederholt mitgeteilt. Ausgerechnet jenes Ministerium, dessen Chefin Yvonne Gebauer 2017 mit dem Spruch „Digital first, Bedenken second“ in den Landtagswahlkampf gezogen war.“

Und dann kommt im Bericht von Spiegel.de ein konkretes Beispiel für die von der FAZ generell erkannte ‚Erosion der Zustimmung‘: „Schulverwaltung, Eltern und Lehrerorganisationen in Solingen sind angesichts der Entscheidung sauer. „Wir sind außerordentlich enttäuscht über diese Entscheidung“, sagt der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) am Dienstagabend, und seine Verbitterung ist ihm anzumerken, „ich halte diese Entscheidung für falsch.“ Die Stadt habe das hohe Infektionsaufkommen in Solingen eindämmen wollen, „in einer intensiven und abgestimmten Weise mit allen weiterführenden Schulen – genau das also, was Bund und Land seit Monaten von uns fordern“.“ (Spiegel.de, 3.11.2020)
Die Ungereimtheiten von Corona-Maßnahmen, die im praktischen Leben vor Ort zu spüren sind, nicht in den gut belüfteten Räumen und Staatskarossen der Länder- und Bundesministerinnen und -minister, lösen die Erosion der Zustimmung aus.
Pflegenotstand nicht erst seit Corona
Ähnliches wie für die Schulen gilt für die Situation im Gesundheitswesen. Die Zahl des Pflegepersonals in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen bietet nicht weniger, sondern noch mehr Anlass zu Sorge als vor einem Jahr. Maßnahmen zur Beseitigung des bereits vor Corona beklagten Pflegenotstands werden, wenn überhaupt, viel zu spät, zu wenig durchdacht und nicht nachhaltig getroffen.
„Im Frühjahr haben wir uns alle zusammengerauft, das hat unheimlich viele positive Energien freigesetzt. Dieses Gefühl fehlt jetzt“, wird Intensivpflegerin Bärbel Breimann an der Universitätsklinik Münster von dw.com am 11.11. zitiert, „und dann ist da die Angst, dass wir unseren Standard so nicht aufrechterhalten können, weil alles personell so auf Kante genäht ist, und dass dann Schadensbegrenzung angesagt ist.“
Hätten die Bürger Solingens und ihre Stadtverwaltung ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen, wäre der Wechselunterricht seit Anfang November dort Realität. Und die Bürger Münsters würden vermutlich dem Pflegepersonal längst einen höheren Wert geben und für eine bessere Ausstattung sorgen als ihre Landesregierung. Aber die Entscheidungen fallen auf höherer Ebene. Warten wir auf die Maßnahmen der Parlamente und Ministerien, warten wir lange und oft vergeblich.
Die verhältnismäßig schnellen und klaren Entscheidungen von Bund und Ländern zu Beginn der Pandemie waren eine große Ausnahme und haben zu einer ungewohnt breiten Zustimmung der Bürger geführt. Dass sie allmählich erodiert, hängt damit zusammen, dass etliche Maßnahmen nicht nachvollziehbar sind. Welche Interessengruppen haben da Einfluss? Wer und was bewegt die Politiker der regierenden Parteien zu welchen Maßnahmen?
In Zeiten von Wahlen zeigt sich das Gesicht der Parteiendemokratie. Wenn es darum geht, die nötige Zahl von Stimmen zu erhalten, um an die Macht zu kommen (wie die Grünen vielleicht nächstes Jahr bei uns), oder um an der Macht zu bleiben (wie Präsident Emmanuel Macron in Frankreich und die Union bei uns), dann sind Umfragen wichtiger als gemachte Versprechen und verabschiedete Parteiprogramme.
Michel Z. und das brutale Gesicht des französischen Staates
Macron zeigt gerade ein sehr hässliches Gesicht. Schon die extrem niedrige Wahlbeteiligung von rund 40 Prozent bei den Kommunalwahlen im Sommer dieses Jahres zeigte, dass die französische Wahl-Demokratie nicht einmal die Hälfte der Bürger repräsentiert. Nach den verheerenden Niederlagen gegen Marine Le Pen wie gegen die Grünen hat Macron auf Angriff geschaltet. Ein Angriff, der vor allem Wähler von Le Pen bei den nächsten Präsidentenwahlen zu ihm ziehen soll.
Es erinnert an die vorige Variante des jetzt so volksnah auftretenden bayrischen Ministerpräsidenten Söder erst vor zwei Jahren zur Landtagswahl: die Parolen der Rechten und der AFD aufgreifen, um der AFD Stimmen wegzunehmen. So versucht es Macron gerade gegen die gefährlich starke Marine le Pen. Sein Angriff drückt sich unter anderem in der Ernennung von Darmanin, einem knallharten Mistreiter von Sarkozy, zum Innenminister aus. Der lässt der Polizei offenbar so freie Hand wie Rudy Giuliano seinerzeit in New York.

Die brutal rassistische Gewalt einer ganzen Polizistenhorde mitten in Paris gegen den schwarzen Musikproduzenten Michel Z. führt seit über einer Woche zu regelrechten Straßenschlachten in Paris und anderen Städten. Das Video des Nachrichtenportals loop sider wurde bis gestern mehr als 14 Millionen Mal angeklickt. Es macht sprachlos, wie wenig sich Bürger in Paris auf den Rechtsstaat verlassen können. Da ist kaum ein Unterschied zu den Verhältnissen in den USA im letzten Sommer und in den letzten 200 Jahren.
Nur die öffentlich gemachten Bilder einer Sicherheitskamera, von der die Polizisten nichts wussten, führten wohl zur Freilassung von Michel Z. Nach 48 Stunden ohne ärztliche Versorgung trotz schwerer Verletzungen auch am Kopf. Macron gibt sich entsetzt, aber seine Regierung versucht gerade, ein Gesetz durchzupauken, mit dem Fotos und Videos von Polizeibeamten im Einsatz unter Strafe gestellt werden.
Straßenschlachten haben wir noch keine. Fälle exzessiver Gewalt des Staates gegen Bürger wie in Frankreich oder den USA kennen wir bisher noch selten. Wie den des im Januar 2005 in Dessau verbrannten schwarzen Gefangenen Oury Jalloh. An Händen und Füßen gefesselt soll er in seiner Zelle selbst seine Matratze angezündet haben. Das Verfahren gegen alle Beamten wurde eingestellt und niemand je zur Rechenschaft gezogen. Und Seehofer weigert sich erfolgreich gegen eine Untersuchung des weit verbreiteten Rassismus und Rechtsradikalismus innerhalb von Polizei und Bundeswehr, wie er sich zuletzt in großen Chatgruppen in Hessen und NRW gezeigt hat.
Die auf Wahlen beruhende „Demokratie“ ist gefährlich. Trump und der US-Machtapparat von der Polizei bis zur Armee haben in den letzten Jahren und gerade in der Corona-Pandemie gezeigt, wie gefährlich. Bei uns stehen zahlreiche Wahlen im kommenden Jahr vor der Tür. Eine gute Gelegenheit, über die Demokratie zu diskutieren.
Bürgerbeiräte sind vielleicht gar nicht schlecht als erster Schritt zu mehr Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungen. Aber am Ende sollte das Parlament selbst zufällig und repräsentativ aus der Bürgerschaft zusammengesetzt sein. Parteilos. Wäre das vielleicht ein guter Name für eine neue Partei? Mit dem Namen als Programm?