Letzte Aktualisierung 22.12.2020
Wo man auch hineinschaut, wird jetzt über Demokratie diskutiert. Sehr kontrovers. Sehr gute Argumente sind zu hören. Neben der üblichen Leier. Vielleicht ist meine Hoffnung gar nicht so falsch, dass Corona hier eine Chance eröffnet. Richtig hoffnungsvoll aber stimmt, dass sich Hunderte hervorragender Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen für eine europaweite Initiative gegen Covid-19 zusammengetan haben. Aber erst mal zur Demokratie.
Bürgerräte und Beiräte, mehr Partizipation auf allen Ebenen, Losverfahren statt Wahlen, Bürgervertretung statt Parteienparlament – seit einigen Jahren gibt es eine Debatte darüber, wie eine Demokratie beschaffen sein muss, in der tatsächlich der Bürger, der Demos, die Macht hat. Und nicht eine Elite von Parteifunktionären, die vielfach nichts anderes gelernt haben und ihr Leben mit nichts anderem zubringen, als Macht zu erringen und sich an der Macht zu halten. Im Rahmen der Pandemie und ihrer Bekämpfung nimmt diese Debatte Fahrt auf.

Erst am 23. November gab es in der FAZ einen Kommentar, der den Lesern unnötiges Nachdenken über unsere Staatsordnung unter der Überschrift ausreden wollte: „Was nützen Corona-Bürgerräte?“ (siehe Wochenschauer 49: „Corona und die Demokratie“). Und dieser Tage folgte die nächste Breitseite, diesmal in der ZEIT. Eine Kolumne durfte Theo Sommer vollschreiben gegen jede Art von kritischen Gedanken zur repräsentativen Demokratie, ohne ein einziges ernstzunehmendes Argument. Die Überschrift ist herrlich doppeldeutig, was dem Autor vermutlich gar nicht aufgefallen ist: „Demokratie: Davon sollten wir Abstand nehmen“. Eine typische Freud‘sche Fehlleistung. Tatsächlich klingt sein ganzer Text, als wolle er Abstand nehmen zur Demokratie.
Eigentlich aber meinte er, wir sollten Abstand halten zu allen, die uns eine andere als die gegenwärtige Art von Demokratie empfehlen. Wie Rüdiger Soldt in der FAZ gesteht uns auch Sommer großzügig zu: „Mehr Mitbestimmung, darüber lässt sich reden.“ Und wie Soldt hebt er warnend den Zeigefinger: „Aber wir sollten das Unbehagen nicht zu weit treiben.“ Mitbestimmen bei Sommer, Debattieren bei Soldt – aber nicht in Frage stellen, dass die Entscheidungen von den gewählten Parteipolitikern getroffen werden. Als zentrales ‚Argument‘, das mehrfach wiederholt wird, findet sich: „Und das ist gut so!“
- Zwischenüberschrift: „Die Parlamente entscheiden, gut so“
- „ (…) sind alle fundamentalen Richtungsentscheidungen seit 1949 im Bundestag gefallen. (…) Und das war gut so.“
- Auch der gewählte Landtag bei Volksentscheiden in Bayern „bleibt aber letztentscheidend. Und auch das ist gut so.“
Sommer bekommt für diesen Brei einen guten Sendeplatz in der ZEIT. Und das ist nicht gut so.
Das Gute in der Kolumne sind die Hinweise auf die vermeintlich Bösen, die sich darin finden und die ich nun umgekehrt meinen Leserinnen und Lesern sehr ans Herz legen möchte. Ich habe sie mir genauer angeschaut und kann den Unmut der Verteidiger der Wahl- und Parteiendemokratie bestens verstehen.
Es sind vor allem zwei Quellen, die sich lohnen, und zu denen Sommer nur sagt: „Ich habe für derlei Gedankenspielereien nichts übrig.“ Die erste findet sich im INFOsperber, einer Internetzeitung, die seit 2011 von der Schweizerischen Stiftung zur Förderung unabhängiger Information (SSUI) in Bern herausgegeben wird, und zu deren Gründern der inzwischen verstorbene großartige evangelische Theologe und Schriftsteller Kurt Marti gehörte. Im INFOsperber hat am 19. November das Wissenschaftlertrio Bruno S. Frey, Margit Osterloh und Katja Rost unter dem Titel „Zufallsentscheid in Politik und Wirtschaft kann rational sein“ darüber geschrieben, dass “der Zufall“ (gemeint ist das Losverfahren, Anmerkung von mir) „Hybris und Machtmissbrauch verhindert und massiv den Frauenanteil erhöht“.
Dieser Artikel ist nicht nur lesenswert wegen der Laborexperimente, die die Wissenschaftler durchgeführt haben, um die Nützlichkeit des Losverfahrens der griechischen wie der mittelalterlichen Stadtstaaten wieder einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen. Er enthält auch eine Reihe weiterer Hinweise auf zahlreiche andere Autoren und Studien zum selben Thema.


Der richtig Böse bei Sommer ist der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel, der im September ein hervorragendes Buch veröffentlicht hat, auf das sich die eben genannten Wissenschaftler beziehen und mit dem ich mich in der kommenden Woche beschäftigen werde: „Tyranny of Merit“ (im Original „Die Tyrannei des Verdienstes“, auf Deutsch: „Vom Ende des Gemeinwohls“). Er weist in seinem Buch nach, dass die ursprünglich 1958 in einer Satire erstmals so genannte „Meritokratie“, also die Herrschaft derer, die sich durch ihre Bildung das Herrschen redlich verdient zu haben glauben, der naheliegende Grund dafür ist, dass in dieser Gesellschaft solche Gestalten wie Donald Trump und Boris Johnson an die Macht kommen konnten.
Die Debatte geht in die Breite. Über das Buch von Sandel und dessen Einstellung schreibt die britische Tageszeitung The Guardian einen langen, sehr positiven Bericht. Die ZEIT muss immerhin einen kläglichen Kolumnenschreiber darauf ansetzen. Offenbar gibt es recht viele Menschen, die Angst davor haben, dass die jetzigen Machtverhältnisse sich in Richtung einer tatsächlichen Demokratie verändern. Tyranny of Merit macht klar, warum dies nicht nur die Politiker selbst sind, sondern alle, die davon überzeugt sind, dass sie ihren sehr hohen Lebensstandard ausschließlich ihrem eigenen Verdienst (Merit) zu verdanken haben. Nicht den Verhältnissen, die ihnen dazu verhelfen. Schon gar nicht dem glücklichen Los oder dem Zufall. Oder den reichen Eltern.
Wellenbrecher gegen 40-fach zu hohe Infektionszahlen
Aber nicht alle, die eine gute Ausbildung und damit eine gute Position in der Gesellschaft erreicht haben, neigen zu Missbrauch ihrer Position und Verachtung der Bürger und ihrer Sorgen. Während Christian Lindner und seine FDP, und noch mehr die AFD samt der ihnen nahestehenden Querdenker, immer noch das hohe Lied der individuellen Freiheit jodeln, gibt es jetzt mehrere hundert Wissenschaftler, die sich zu einer europaweiten Initiative zusammengetan haben, mit der es Covid-19 ernsthaft an den Kragen gehen soll.
Das Prinzip, das sie verfechten, ist sehr einfach und spricht den Umfragen zufolge wohl etwa 75% der Bundesbürger aus der Seele: Absolut niedrige Infektionszahlen sind die einzig sinnvolle Gewähr, dass das Gesundheitssystem in der Pandemie nicht zusammenbricht und wir längerfristig wieder durchatmen können. Nicht relativ hohe Zahlen und das Hin und Her und Wischiwaschi der letzten Monate, nicht das Hoffen auf eine ‚Herdenimmunität‘, während wir noch nicht einmal wissen, wie lange man überhaupt immun ist, wenn man das Virus überlebt hat oder davon genesen ist. Wie lange die Impfung wirkt, wissen wir auch noch nicht.

Das Manifest europäischer Forscher trägt den Titel: „WissenschaftlerInnen fordern europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der COVID-19-Fallzahlen“. Punkt 1 der Forderungen des Manifests lautet: „Rasch niedrige Fallzahlen erreichen: Anzustreben sind maximal zehn neue COVID-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag. Dieses Ziel wurde in vielen Ländern erreicht und kann in ganz Europa spätestens im Frühjahr wieder erreicht werden.“
Zehn Fälle pro Million pro Tag, das sind in Deutschland bei rund 80 Millionen Bürgern 800 Fälle am Tag. Die mehr als 32.000 der letzten Woche sind das Vierzigfache! Aber nur bei rund 800 pro Tag wären die Gesundheitsämter in der Lage, die Pandemie an ihren Quellen zu bekämpfen, die Cluster zu finden und sicher einzugrenzen. Das gesamte Gesundheitssystem wäre in der Lage, die schwer Erkrankten gut zu behandeln, ohne die Pflegekräfte und Ärzte in den Kollaps zu treiben.

Gestartet wurde die Initiative am 18. Dezember in Deutschland von der Göttinger Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann. Einen Tag später meldet die FAZ bereits mehr als 300 Unterzeichner aus der Wissenschaft in ganz Europa. In Deutschland gehörten Christian Drosten von der Charité, Lothar Wieler vom RKI, aber auch Clemens Fuest vom IFO Institut und andere Wirtschaftswissenschaftler zu den Unterzeichnern. Die aus Funk und Fernsehen und vor allem Talkshows bekannten Kritiker von Lockdown und dem Ziel niedriger Infektionszahlen, wie Hendrik Streeck, Jonas Schmidt-Chanasit oder der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, suchte man vergeblich.
Eine Grafik, die vielleicht so viel Hoffnung machen könnte wie im Frühjahr die von der flach gehaltenen Infektionskurve, wurde mit dem Manifest veröffentlicht. Der Wellenbrecher soll zeigen, wie schon im nächsten Jahr auch in Europa eine Beherrschung der Pandemie möglich ist, die gegenwärtig nur autoritäre Systeme oder Inselländer hinkriegen. Das ist doch ein netter Ausblick kurz vor Weihnachten.
Jetzt geht es darum, dass diese Forderungen bei denen Gehör finden, die schon wieder hauptsächlich die nächsten Wahlen im Kopf haben. Wer da jemanden kennt, ob im Ortsverein oder auf der Landesliste, bei welcher Partei auch immer: Sie sollen sich kümmern!