Das Ende des Corona-Jahres und der Start des neuen ist eine gute Gelegenheit, sich mit dem Wert unseres Lebens und unserer Arbeit zu befassen. Es sind nämlich noch für eine ziemliche Zeitspanne genau die Tätigkeiten für die Gesellschaft überlebenswichtig, die in den vergangenen vier Jahrzehnten immer weniger wert wurden. Bis wir in Deutschland fast keine Pfleger mehr hatten, keine Paketlieferantinnen, keine Brombeerpflücker, Spargelstecherinnen und Weinleser. Sie mussten aus Ländern kommen, wo es ihnen noch schlechter ging und man ihre Tätigkeit noch weniger zu schätzen wusste als bei uns. Und das will etwas heißen.

Ein schönes Weihnachtsgeschenk war mir die Lektüre von Michael Sandels Tyranny of Merit [1] oder Vom Ende des Gemeinwohls [2]. Erstens habe ich darüber wichtige Zusammenhänge verstanden zwischen dem gefährlichen „Populismus“, der zu einer starken AFD, Zigtausenden „Querdenkern“, Trump und Brexit geführt hat, und seiner Ursache: dem globalen, unerträglichen Gefühl von Demütigung, Wertlosigkeit und Geringschätzung, mit dem Abermillionen Menschen zu kämpfen haben. Zweitens aber erahne ich seit Langem wieder einen gangbaren Weg, wie sich die Menschheit einer Art von Zusammenleben und staatlicher Organisation nähern kann, die den Namen Demokratie verdient.
Vorweg: Der Schwerpunkt der Analyse von Michael Sandel liegt auf den Verhältnissen in den USA und Großbritannien, und diese unterscheiden sich (Gottseidank) an diversen Punkten (noch) von denen bei uns und in anderen westlichen Ländern. Und sein Buch dreht sich stark um die dortigen Hochschulen und ihre Zulassungsverfahren, denn darin sieht er den Kernprozess, über den die Gesellschaft die Auswahl ihrer jetzigen Elite organisiert. Ein Beleg von vielen:
„Zwei Drittel der Studenten in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommensskala. Trotz großzügiger finanzieller Hilfen kommen weniger als vier Prozent der Studenten an den Unis der Ivy League [3] aus dem unteren Fünftel. In Harvard und an den anderen Unis der Ivy League gibt es mehr Studenten aus Familien im obersten einen Prozent (Einkommen über 630.000 Dollar jährlich) als Studenten aus der unteren Hälfte der Einkommensverteilung.“ (Sandel 2020, S. 40)
Der Beginn des Neoliberalismus
In den Achtziger- und Neunzigerjahren haben die Regierungen unter Ronald Reagan und Margret Thatcher an entscheidenden Stellen die Hebel für den Weg in die Leistungsgesellschaft umgelegt. Sie waren die Speerspitzen des Neoliberalismus und eines weitgehend ungehinderten, globalisierten Marktes, wie er heute die Welt beherrscht.
Das Argument, mit dem die Menschen dazu gebracht wurden, diesen Weg mitzugehen, lautete in etwa: Die Elite aus reichen, gebildeten und vielfach auch noch adligen Großbürgern vererbe ihre Macht und ihren Einfluss an ihre Nachkommen. Dabei sollten doch die besten, klügsten und fähigsten Menschen an der Spitze stehen. Am anderen Ende der Erfolgsleiter aber würden massenhaft Menschen durch den Staat unterstützt, die gar kein Interesse hätten, eine Leistung für die Gesellschaft zu erbringen. Der Wohlfahrtsstaat ermutige sie zu Faulheit, Nichtstun und ungesunder Ernährung, und wenn sie dann krank und arbeitsunfähig seien, bezahle er ihr Überleben aus Steuergeldern. Das schien vielen einleuchtend veränderungsbedürftig.
In den USA wie im Vereinigten Königreich waren die regelrecht umstürzenden Maßnahmen zur angeblichen Verbesserung ähnlich fatal. Es begann eine noch heute nicht vollständig beendete Privatisierung von bis dahin als staatliche Infrastruktur für die Gesellschaft organisierten Unternehmen, vor allem Post, Telekom (und später das Internet), Bahn und Transport, aber auch Krankenhäuser und Gesundheitswesen, teilweise Schulen und Hochschulen. Gleichzeitig wurden die Steuern für Vermögen und Erbschaft, aber auch die Unterstützungsleistungen für Bedürftige massiv gekürzt und indirekte, also von jedermann zu zahlende Steuern, erhöht. Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben wir zu verdanken, dass Deutschland Ende der Neunzigerjahre dieselbe Richtung einschlug.
Wert und Würde
Corona bringt uns eine gute Gelegenheit, den Spieß wieder umzudrehen und all jene für systemrelevant zu erklären, ohne die die Pandemie gar nicht zu bewältigen ist. Es wird Zeit, die Helfer, Pflegerinnen, Ärzte und Krankentransporteurinnen nicht mit einem lächerlichen Bonus oder beifälligem Klatschen vom sicheren Balkon abzuspeisen. Sie sollen nicht nur dauerhaft gut leben von ihrem Einkommen. Sie sollen auch spüren, dass wir ihre Tätigkeit und sie selbst würdigen. Nicht die Beamten von Herrn Seehofer, die auf Kosten des Staates zwei Plätze in der Bahn reservieren dürfen. Nicht die Zocker an der Börse und die Finanzspekulanten und sogenannten Investmentbanker, die nur zur Vermehrung ihres übermäßigen Profits investieren, aber nicht in sinnvolle Produkte und Dienstleistungen.
„Adair Turner, eine glaubwürdige Autorität, hat geschätzt, dass in entwickelten Volkswirtschaften wie den USA und dem Vereinigten Königreich nur 15 Prozent der Finanzströme in neue produktive Unternehmungen und nicht in die Spekulation auf existierende Werte oder Phantasie-Derivate fließen. (…) Wirtschaftlich legt (das) nahe, dass ein großer Teil der Finanzaktivitäten das Wirtschaftswachstum eher hemmt als fördert. Moralisch und politisch entlarvt (das) eine gewaltige Diskrepanz zwischen den Belohnungen, die der Markt dem Finanzsektor gewährt, und dem Wert seines Beitrags zum Gemeinwohl.“ (Sandel, 2020, S. 347)
London und New York sind in diesen Jahrzehnten die größten Finanzplätze der Welt geworden. Und während das Finanzkapital als angebliche Quelle wirtschaftlichen Wachtsums heiliggesprochen wurde, baute die Industrie in den USA wie in Großbritannien Millionen von Arbeitsplätzen ab. Die Globalisierung machte es möglich, Produkte in Asien oder Osteuropa oder sonst wo vielfach günstiger zusammenbauen zu lassen. Den daraus zusätzlich eingestrichenen Gewinn zu versteuern, wäre gegen die Pläne der Neoliberalen gewesen. Der Unterschied zwischen den Milliardären von Wallstreet und Internet auf der einen und den normalen Menschen auf der anderen Seite wurde zusehends unerträglich. Die Finanzkrise von 2008 haben in den USA Obama und in Deutschland und Europa vor allem die Regierung Merkel auf Kosten der Steuerzahler behoben, ohne irgendetwas an den skandalösen Zuständen zu ändern, die dazu geführt hatten.

Es ist Zeit, dass wir uns mit Ethik, Moral und Werten menschlicher Tätigkeiten befassen. Es verhält sich damit nämlich so ähnlich wie mit der Vorstellung, dass Demokratie repräsentativ sein muss und mit Wahlen von Parteipolitikern untrennbar verbunden. Ähnlich selbstverständlich scheint uns nach fast 40 Jahren Neoliberalismus der Gedanke, dass eine Leistungsgesellschaft gerecht ist. Jeder bekommt ja, was er verdient, weil er sich das, basierend auf seinen eigenen Fähigkeiten, selbst erarbeitet hat. Für mich war es eine große Überraschung, zu verstehen, dass die Leistungsgesellschaft noch ungerechter, auf jeden Fall aber erniedrigender für unzählige Menschen ist als alle anderen, von der Feudalgesellschaft über die Geld- und Besitzaristokratie bis hin zu den Parteioligarchien und Diktaturen im Osten. Da hat man nämlich wenigstens nicht auch noch das Gefühl, dass man selbst für sein Elend verantwortlich ist.
Die Zulassungen zu den Universitäten, vor allem zu ganz wenigen Elite-Einrichtungen, wurden zum zentralen Auslesewerkzeug für die künftige Führung der Länder. Weder die eigene Herkunft oder die Position der Eltern, noch Hautfarbe oder Geschlecht sollten eine Rolle spielen. Der Grund war einfach: Mit der rapiden Zunahme der Bedeutung von Technik und Technologie für die Wirtschaft reichten die auf die alte Art verfügbaren Spezialisten und akademisch Gebildeten nicht mehr aus.

Aber auch wenn dabei gewisse Grenzen gegen die Diskriminierung gezogen wurden: Sie wurden nur für die Elite gezogen. Der schwarze Musiker George Floyd wurde in diesem Jahr vor laufender Kamera ermordet, indem ein Polizistenknie fast neun Minuten seinen Hals auf die Straße presste. In welchem Land man geboren wird, welche Begabung man mit ins Leben bringt, welcher Lohn für welche Tätigkeit bezahlt wird, welches Leben etwas zählt – das hat sehr viel mit Zufall zu tun, den man auch Gottes Gnade oder Schicksal nennen kann. Mit der eigenen Leistung hat es gar nichts zu tun. Es war eine geschickte Lüge, die im sogenannten Land der unbegrenzten Möglichkeiten gut verfing. Bis die Massen anfingen, sich zu wehren. Weder Obama noch Hillary Clinton haben das verstanden. Die Politiker beider Parteien in den USA verstehen es bis heute nicht und wollen es vielleicht auch gar nicht. Vor allem haben sie nach wie vor keine Idee und kein Konzept, wie es nach Trump und 40 Jahren Neoliberalismus und Leistungsgesellschaft – oder Meritokratie – wieder besser werden könnte.
Wenn aus Satire Realität wird
Meritokratie ist ein lateinisch-griechisches Mischwort für „Herrschaft des Verdienstes“. Er wurde von dem der Labour Party nahestehenden britischen Soziologen Michael Young in einer Satire geprägt. „1958 schrieb er sein Buch Es lebe die Ungleichheit [4]. Für Young stellte die Leistungsgesellschaft kein Ideal, sondern eine Dystopie dar. (…) Aus der fiktiven Perspektive eines aus dem Jahr 2033 zurückschauenden Historikers schildert er mit unheimlicher Klarheit die moralische Logik der meritokratischen Gesellschaft.“ (Sandel 2020, S. 185)
„Young ahnte voraus, dass dieses toxische Gebräu aus Überheblichkeit und Groll eine politische Gegenreaktion befeuern würde. Er schloss seine dystopische Erzählung mit der Vorhersage, dass die geringer gebildeten Klassen sich 2034 in einer populistischen Revolte gegen die meritokratischen Eliten erheben würden. Als Großbritannien 2016 für den Brexit und Amerika für Trump stimmte, ereignete sich diese Revolte 18 Jahre früher als geplant.“ (ebda. S. 190)
Und jetzt? Sandel hält einen schönen Schluss bereit, bestens geeignet als Wunschzettel für das neue Jahr. Ein Wunschzettel allerdings, den wir uns selbst erfüllen müssen.
„Die meritokratische Überzeugung, dass die Menschen alle Reichtümer verdienen, die der Markt für ihre Fähigkeiten verteilt, macht Solidarität zu einem fast unmöglichen Vorhaben. (…) Ein Gefühl für die Zufälligkeiten des Lebens kann eine gewisse Demut hervorrufen. ‚Das hätte auch mir passieren können, wenn nicht die Gnade Gottes, der Zufall der Geburt oder das Mysterium des Schicksals mich davor bewahrt hätte‘. Eine solche Demut steht am Anfang des Weges, der uns von der brutalen Ethik des Erfolgs, die uns auseinandertreibt, zurück führt. Sie weist über die Tyrannei der Leistung hinaus auf ein weniger erbittert geführtes, großzügigeres öffentliches Leben.“ (Sandel, S. 361,362)

Als Mittel schwebt ihm etwas vor, das ich mir ebenfalls dringlich wünsche: „Erforderlich ist allerdings, dass Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammentreffen. Denn so lernen wir zu verhandeln und unsere Differenzen auszuhalten. Und so schaffen wir es, uns um das Gemeinwohl zu kümmern.“ (ebda., S. 361)
In diesem Sinne: Auf in ein besseres 2021! Alles Gute zum Start!
[1] Farrar, Straus and Giroux, New York, 2020, ISBN 9780374911010
[2] S. Fischer Verlag, 2020, ISBN 978-3-10-390000-2
[3] Ivy League sind acht private Eliteuniversitäten im Nordosten der USA: Brown, Columbia, Cornell, Dartmouth, Harvard, Princeton, Pennsylvania und Yale
[4] Econ Verlag, Düsseldorf, 1961