Offene Standards, Container-Software, Apps und APIs, Web-Services statt Softwarelizenzen – in Sachen Industriesoftware gibt es derzeit eine Aufbruchstimmung mit zahlreichen Firmengründungen, wie ich es vor 30, 40 Jahren in der Geburtsstunde von CAD und CAM schon einmal erlebt habe. Nur dass es diesmal nicht um eine neue Art von Software oder überhaupt um Produkte geht. Sondern um Services auf Basis der Web-Technologie, bezahlt für ihre Nutzung. Dieser Unterschied in der Technologie und im Geschäftsmodell ist so groß, dass der Aufbruch nur begrenzt vergleichbar ist. Auch die Protagonisten sind ganz andere. Bei Anbietern und Nutzern.

Noch vor ein paar Jahren schien es in der Industriesoftware nur eine Richtung zu geben: Die verbliebenen Anbieter in den einzelnen Anwendungsgebieten kauften kleine hinzu, um deren Softwarefunktionalität in ihre Monolithen zu integrieren. Jetzt tauchen Start-ups und andere Player auf, die weder Softwarelizenzen noch sich selbst verkaufen wollen. Stattdessen bieten sie Web-Services, deren Funktionalität neu ist und Lösungslücken füllt. Und diese neuen Dienste vertragen sich obendrein durchaus mit den älteren Systemen. – Wenn diese sich denn mit APIs öffnen.

Damals, in den Achtziger- und Neunzigerjahren, habe ich ungezählte Berichte darüber geschrieben, was die Industrieunternehmen mit den neuen Softwareprodukten machten. Die Ingenieure und Konstrukteure wussten es am besten. Einem Anwender konnte man vertrauen. Solche Berichte schreibe ich nur noch sehr selten. Alle – jedenfalls die mit Industriesoftware Befassten – wissen, was mit CAD, MES, CRM, ERP, PDM, PLM und all den anderen Akronymen gemeint ist und was man mit den entsprechenden Systemen tun kann.

Vergleichbar mit damals ist jetzt: Es fehlt an Case-Studies, an Berichten aus der Praxisnutzung der neuen Web-Dienste. Denn die meisten Menschen in der Industrie haben sich an die herkömmliche IT gewöhnt und können sich das Neue gar nicht vorstellen. Da habe ich in den nächsten Jahren möglicherweise wieder viel zu tun. Wie damals braucht es Dolmetscher, die verstehen, was da auf den Markt kommt und wozu es die Industrie benötigt. Berichte, die Nutzen und Wert des Neuen beschreiben.

Auch vergleichbar ist ein anderer Aspekt des Neuaufbruchs: Die vielen Akteure – tatsächlich sind es mehr als damals – kennen sich oft nicht untereinander. Und der Markt kennt sie auch nicht. Jedenfalls nicht verglichen mit den bekannten Namen der marktgängigen Industrie-IT. Die für diese Vernetzung nötigen Plattformen und Portale gibt es noch nicht, eine spezielle Fachmedienlandschaft wie damals für CAD/CAM auch nicht. Dabei ist diese Vernetzung noch viel dringender als damals.

Hintergrundserie auf dem Nachrichtenportal „Industrie-Digitalisierung„: Composable Software, hier die Einleitung

Um einen Web-basierten Service anzubieten, kann schließlich kein einzelnes Unternehmen alle Ingredienzen selbst entwickeln und bauen. Muss es auch nicht mehr. Von den Hyperscalern und Cloud-Plattformanbietern über Management-Software bis zu ergänzenden Services und Dienstleistern hat jeder schon beim Markteintritt ein ganzes Ökosystem, auf das er sich stützt und in das er seinen Service einbettet. Das Vernetzen ist heute eine Notwendigkeit, ohne die das Geschäftsmodell gar nicht funktioniert.

In der Industrie selbst wird sich auch Einiges ändern. Die neuen Dienste bieten endlich die Möglichkeit, die gewachsenen Datensilos der Abteilungen aufzubrechen. Da sie nicht auf installierten Softwaresystemen beruhen, sondern auf einer Web-basierten Funktionalität, ermöglichen sie ganz neue Formen und Themen der abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit. Jetzt werden die mit den alten Anwendungen gewachsenen Verantwortlichkeiten im Organigramm zum Hemmschuh. Es braucht neue Strukturen.

Es gibt also viel zu tun. Es tut sich eine spannende, aufregende Zeit auf, in der nicht wenige Träume in Erfüllung gehen, die Anbieter wie Anwender lange Zeit hatten. Jetzt ist die Technologie reif und die Standards sind verfügbar.

Das US-amerikanische Analystenhaus Gartner spricht bei der neuen Entwicklung von „Composable IT“. Zum Beispiel im Bereich Fertigungsmanagement, für das bisher Manufacturing Execution Systems (MES) zum Einsatz kommen, rechnet Gartner schon für 2025 damit, dass 60% aller neuen Lösungen „composable“, einfach zusammensetzbar, sein werden.

Ich habe gerade auf meinem Nachrichtenportal „Industrie-Digitalisierung“ eine Artikelserie gestartet, die den Namen „Composable Software“ trägt. Drei Anbieter haben ihre Zusammenarbeit dafür schon zugesagt. Ich rechne mit einigen weiteren. Und mit Anfragen für Anwenderberichte rechne ich auch. Einfach melden. Ich bin analog wie digital und web-based erreichbar.